Der gute Geist Mamas

Von Klaus Werner · · 2000/06

Katrin Rohde verließ vor fünf Jahren Deutschland, gab Familie und Besitz auf, um sich in Burkina Faso um Straßenkinder zu kümmern. Eine ungewöhnliche Frau widmet ihr Leben den Kindern von Ouagadougou.

„Und dann war da auf einmal so ein riesengroßes Monster, mit glühenden Augen und Flügeln, sooo groß“, sagt Petit Papa. „Nein“, widerspricht Seydu, „sooooo groß“. Papa fügt hinzu: „Ja, und da, da hat es Schuppen gehabt, und unten war es wie ein Pferd.“ Und? „Na und wir sind natürlich gerannt was geht, kannst dir denken“, sagt Petit Papa und zeichnet einen Strich in den Sandboden Richtung Ausgang. Seydu macht nur „Pssssch…“, bewegt den Kopf dabei von links nach rechts, „so schnell kannst gar nicht schauen“.

Dass Petit Papa und Seydu Gespenster sehen, kommt vor. Erstens sind Geister in Afrika ungefähr so gegenwärtig wie bei uns Mobiltelefone und zweitens haben die beiden Zehnjährigen schon Schlimmeres erlebt. Etwa, wie es ist, zwei Tage ohne Essen auszukommen, weil man sich wieder nichts erschnorrt hat. Oder weil einem das mühsam Erbettelte beim Schlafen in den Straßen Ouagadougous unterm Kopf weggestohlen oder von den Großen herausgeprügelt worden ist.

Deshalb kann der kleine Bub mit dem breiten Grinsen namens Traoré Mohammed, zu dem alle, niemand weiß warum, Papa sagen, nicht nur Fabelwesen bis ins kleinste Detail beschreiben. Genauso exakt kann er schildern, wie das ist, wenn du aufwachst und es ist nass und du merkst, dass du in einer Blutlache liegst. Die ist groß wie ein See, so dass du meinst, darin zu ertrinken. Du drehst dich um und neben dir liegt ein Mann, der hat den Hals offen, einen ganzen Spalt weit und da kommt das Blut raus. Ganz viel Blut. Du weißt, dass jemand den Mann getötet hat, weil es ist nicht der erste getötete Mensch, den du siehst. Und du warst damals keine sechs Jahre alt, da kriegen andere Kinder die erste Schultüte.

Papa geht mittlerweile auch in die Schule. Nicht immer, denn manchmal fürchtet er sich. Nicht vor dem Lehrer – Papa ist Klassenbester – und schon gar nicht vor den anderen Kindern. Ha, sonst noch was! Aber wenn Papa wieder mal schlecht geträumt hat, verzieht er sich in eine Ecke und wartet auf Mama. Die nimmt ihn dann in den Arm und tröstet ihn. Oder ist einfach da. Seit vier Jahren ist Mama einfach da: für Petit Papa, für Seydu und für knapp hundert weitere Kinder zwischen sechs und 18 Jahren, die hier am Stadtrand von Ouaga eine neue Heimat gefunden haben.

Mama, das ist Katrin Rohde. Sie ist die Mama Kipsei, die „Mutter der Waisen“, wie sie in der Lokalsprache Moré genannt wird. Die 50-jährige Deutsche ist vor fünf Jahren nach Burkina Faso gezogen und nimmt sich seither der Waisen, Halbwaisen und Straßenkinder an. Um sie hat sich bisher keiner gekümmert. Sie blicken wie Petit Papa und Seydu auf unfassbare Lebensgeschichten zurück: von Hunger, Obdachlosigkeit, Kriminalität, Krankheit und Vergewaltigung geprägt.

Die Geschichte, die hier in der Stadt fast jeder kennt, klingt beinahe biblisch: Vor einem knappen Jahrzehnt noch besaß Katrin Rohde zwei gut gehende Buchhandlungen in Schleswig-Holstein. Auf einer Reise nach Burkina Faso brach sie an der Grenze mit Fieber zusammen. Der Zöllner nahm sie zu seiner Familie mit und pflegte sie mit Hilfe eines Medizinmannes gesund. Als Rohde nach Wochen wieder auf den Beinen war, wollte sie sich erkenntlich zeigen. Doch der Beamte erbat nicht mehr als den Gegenwert von hundert Schilling: als Spende für den Bau einer Schule im Dorf.

Rohde fuhr zurück nach Deutschland, sammelte Geld, baute damit die Schule fertig und veranlasste gleich den Bau von noch einer. Schließlich verkaufte sie ihr ganzes Hab und Gut, um sich in Burkina Faso niederzulassen. Seither nimmt sie sich in der Hauptstadt Ouagadougou der Straßenkinder an.

Mit einem Bruttosozialprodukt von ca. 230 US-Dollar pro Kopf zählt Burkina Faso zu den ärmsten Ländern der Welt. 1995 betrug die Auslandsverschuldung 1.267 Millionen Dollar. Die Lebenserwartung liegt bei 46 Jahren. Eines von sechs Kindern stirbt vor seinem fünften Geburtstag. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten.

Seit Beginn der 90-iger Jahre steht Burkina Faso mehr oder weniger unter Kuratel von Weltbank und Währungsfonds. Nur 20 Prozent der Menschen haben Zugang zu sauberem Wasser. Die Gesundheitsversorgung ist katastrophal. Vor allem Aids breitet sich ungebremst aus. Die Rate der HIV-Infizierten liegt nach Angaben der WHO bereits bei über sieben Prozent. Landesweit haben mehr als 200.000 Kinder unter 15 ihre Eltern durch Aids verloren.

Staats- und Regierungschef ist Blaise Compaoré, der am 15. Oktober 1987 seinen ehemaligen Weggefährten, den legendären Revolutionär Thomas Sankara gestürzt hat. Offiziell ist Burkina Faso eine demokratische Präsidialrepublik. Oppositionsparteien und Gewerkschaften werfen dem autoritären Compaoré und seiner linksgerichteten Volksfront allerdings vor, Regimekritiker mithilfe der omnipräsenten Geheimdienste getötet zu haben und boykottieren die Wahlen, an denen sich zuletzt ohnehin nur etwa 30 Prozent der Bevölkerung beteiligt hatten.

In diesem wenig komfortablen Umfeld hat Katrin Rohde aus dem staubigen Boden des Elendsviertels Sayri ihre Projekte gestampft. Neben den Müllhalden, von denen der Wind den fäkalienverseuchten Sand herüberträgt, der sich sofort in Nase und Augen festsetzt, errichtete sie ihr Kinderdorf. Es besteht aus Hütten, einer Schule, Gebetsräumen, einem Brunnen, einer Küche mit Restaurant, einer Tischler-,Schneider- und Marionettenwerkstatt. „Managré Nooma“ heißt die Oase. Der Zufluchtsort wurde nach dem ersten Kind benannt, das Rohde auf der Straße aufgelesen hat. Auf Moré bedeutet das: Das Gute geht nie verloren.

Rohde, die nicht die geringste Spur „bemühten Gutmenschentums“ an sich hat, wehrt sich gegen alles Pathetische: „Ich mach das einfach“, sagt sie, und wenn man sich dann noch nach dem Grund fragen traut, deutet sie auf ihre Kinder, „sieh sie dir an“.

So ist es auch nicht leicht, ihr zu entlocken, wie das denn damals genau war, als sie ihren erwachsenen Sohn und ihren damaligen Mann in Deutschland zurückgelassen hat, um nach Afrika zu gehen und dort auch noch zum Islam zu konvertieren. „Weil’s die bessere Religion für mich ist“, sagt Katrin, die jetzt Fatima heißt und der die Menschen an jeder Straßenecke der Millionenstadt „Haja“, Heilige, nachrufen. Warum die bessere Religion? „Sieh dir mal an, wie gut die Leute hier drauf sind, obwohl sie bis zum Hals im Dreck stecken“.

Im Sommer sind die ersten zwölf von Rohdes Kindern erwachsen geworden und müssen sich nun selbständig durchs Leben schlagen. „Neun haben eine feste Stelle – eine enorme Rate“, freut sie sich. Erst kürzlich hat sie das Kinderdorf um ein Areal für 40 Mädchen erweitert. Dem folgte eine Krankenstation, ein Mädchenberatungszentrum, eine Behinderten- und eine Rollstuhlwerkstatt sowie ein Selbsthilfeprojekt für Jugendliche. Eine gynäkologische Station ist im Aufbau. Das Geld für die Projekte muss von privaten Spendern aufgetrieben werden.

Mittlerweile helfen viele der älteren Jugendlichen selbst mit und kümmern sich um die jüngeren. Die „Mutter der Waisen“ hofft, irgendwann einmal das Ruder an eines ihrer Kinder übergeben zu können. Auch um Petit Papa sorgt sie sich jetzt weniger: „Neuerdings steht er morgens um sieben vor dem Tor und feuert die anderen an, damit keiner zu spät in die öffentliche Schule kommt.“

Letzte Woche wurde Papa nämlich zum Klassensprecher gewählt. Er trägt die neue Verantwortung mit sehr viel Würde. „Eins von den Kids wird einmal dieses Land regieren“, ist Katrin Rohde überzeugt. Keine Frage.

Klaus Werner ist freier Journalist und Chefredakteur der Zeitschrift „Kontexte“ des Österreichischen Ökologie-Instituts.

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