Der andere Irak

Von Michael Kirschner · · 2007/10

Die drei kurdischen Provinzen im Norden des Irak sind seit 1991 de facto von Bagdad unabhängig. Bis vor kurzem war es dort auch relativ ruhig – bis im vergangenen August ein mörderisches Attentat drei yezidische Dörfer zerstörte.

Leider haben wir keine Waffen“, sagt Walaa. Er bedauert, dass er als assyrischer Christ aus Mosul fliehen musste. Nach dem US-Einmarsch arbeitete er als Dolmetscher. Für Islamisten und Baathisten sind solche Leute Verräter. Christen wurden aufgefordert, Mosul zu verlassen. Auf Kirchen wurden Bombenanschläge verübt. Es folgten Morddrohungen und Entführungen. Wer kein Lösegeld bezahlen konnte, wurde erschossen. Als Vermummte sein Viertel durchkämmten, floh Walaa. Wie andere schiitische, sunnitische, christliche oder mandäische InterviewpartnerInnen weiß auch er nicht genau, wer die Verfolger waren. Heute lebt er wie tausende ChristInnen aus anderen Teilen des Iraks in einem Vorort von Erbil, der größten Stadt in Irakisch-Kurdistan.
Seit meinem letzten Besuch Anfang 2004 sind hier mehrere Kirchen sowie zahlreiche neue Häuser errichtet worden. Die tägliche Gewalt wie im Rest des Irak gibt es hier nicht. Deutlich sichtbar ist in den Städten der drei seit 1991 unabhängigen kurdischen Provinzen Dohuk, Erbil und Suleymaniah hingegen ein Bau- und Investitionsboom: zahlreiche Neubauten, neue Straßen, Parks und Spielplätze. Ein großzügiges Investitionsgesetz mit umfassenden Steuerbefreiungen begünstigt die Bauvorhaben.
Er habe aber nichts davon, erklärt Walaa. Als arabisch sprechender Christ finde er in den kurdischsprachigen Gebieten keine Arbeit. Zwar würden asiatische Tagelöhner unter sklavenähnlichen Zuständen und auch irakische Araber auf den Großbaustellen arbeiten. Doch von den schlechten Löhnen könnte in den kurdischen Provinzen keine Familie die ständig steigenden Mietpreise und Lebenshaltungskosten bezahlen. Mit der wachsenden Zahl von intern Vertriebenen nimmt der Kampf um die knappen Ressourcen weiter zu. Nun sucht er weiter einen Weg, um nach Amerika oder Europa zu kommen.
In der westlich von Erbil gelegenen Kleinstadt Shekan leben Yeziden (der Yezidismus ist eine nur unter Kurden verbreitete monotheistische Religion), Christen und Kurden unter kurdischer Verwaltung. „Die Amerikaner sind unsere Befreier“, erklärt ein yezidischer Lehrer im nahe gelegenen yezidischen Heiligtum Lalish, während seine Schüler uns ihre Englischtests zeigen. Als yezidischer Kurde unterstütze er die Entwicklung in Kurdistan. Hier verstehe keiner, warum der europäische Antiamerikanismus auf dem Rücken von Saddam-Opfern ausgetragen werde. Bereits die menschenverachtenden UN-Sanktionen zwischen 1991 und 2003 hätten den Irakern die Lebensgrundlagen entzogen. Die UNO sei hier deshalb verhasst. Von internationalen Hilfsorganisationen erwarte man rein gar nichts.
Wenn sein Name nicht genannt würde, könnte er aber auch anderes erzählen, fährt der Lehrer fort. Dort, wo Yeziden Ansprüche stellen würden, käme es zu Diskriminierungen oder auch Gewalt durch Kurden. In yezidischen Orten würde kaum investiert. Als Yeziden in Shekan in eine muslimische Familienangelegenheit verwickelt wurden, brannte der bewaffnete kurdisch-muslimische Mob im Februar 2007 yezidische Einrichtungen nieder. Yeziden mussten aus der Stadt fliehen. Die kurdische Regierung griff zwar ein, doch die Unsicherheit bleibe. Da Yeziden in anderen Teilen des Irak sogar auf offener Straße von sunnitischen Milizen und Terroristen gezielt getötet werden und man keine Perspektiven habe, wollten die Jungen einfach nur weg.

„So ein Blödsinn“, erklärt Falah bei einem Gespräch im eleganten Zentrum Suleymaniahs, der zweitgrößten Stadt von Irakisch-Kurdistan. Als Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation und Kurde habe er die Berichterstattung über „den Irak“ im Westen satt. Wann würden Journalisten endlich begreifen, dass die meisten Kurden auch Sunniten seien, der Kampf zwischen Schiiten und Sunniten im Zentralirak aber ein Konflikt zwischen Arabern ist. Westliche Journalisten interessierten sich für Gewalt, Christen oder Yeziden, für die Lage der kurdischen Jugend und Frauen hingegen gar nicht. Westliche Delegationen würden immer nur über 50-jährige Männer treffen, die als kurdische Freiheitskämpfer 1991 aus den Bergen kamen und seither alle Funktionen in Politik und Wirtschaft übernommen hätten. Die junge Generation der heute 20- und 30-Jährigen würde vollständig ausgeschlossen von allen Positionen.
Wie im gesamten Mittleren Osten, ist auch im Irak die Mehrheit der Bevölkerung unter 25 Jahre alt. „Die Jugend und die Frauen wollen den Wandel“, meint Falah. Demonstrationen in mehreren kurdischen Städten hätten im letzten Jahr gezeigt, dass die sozialen Spannungen sehr groß sind.

Ihre Organisation habe mit sehr wenig Geld große Wirkung erzielt, sagt Hero. Als Ärztin war sie bei ersten Erhebungen zur Genitalverstümmelung bei Frauen in kurdischen Dörfern beteiligt. Dass Frauen in Städten wie Suleymaniah mit engen Hosen und offenen Haaren auf der Straße gingen, ändere nichts an den bestehenden Problemen. Ehrenmorde, Zwangsheiraten, häusliche Gewalt und zahlreiche Selbstverbrennungen von Frauen kämen natürlich weiterhin auch in Kurdistan vor. Dass aber Genitalverstümmelung bei Frauen in einigen Gegenden bis zu 75 Prozent verbreitet sei, hätte selbst sie überrascht. Mit ein paar Ärztinnen und einem Aufklärungsfilm habe man mit der Arbeit begonnen. Im April 2007 wurde eine Petition mit der Forderung nach einem rechtlichen Verbot der Verstümmelung weiblicher Genitalien mit 14.500 Unterschriften dem kurdischen Parlament übergeben.
„Ich habe es satt, als Vorzeigeopfer zu gelten“, sagt Abdullah leise. Seit zwei Jahren arbeitet der heute 27-jährige in Halabja bei Dengue Nwe, dem ersten unabhängigen Jugendradio im ganzen Irak. Die Stadt Halabja ist nach den mit stiller Duldung des Westens durchgeführten Giftgasangriffen Saddams im März 1988 zum Synonym für den Genozid an irakischen Kurden geworden. Die über 50-Jährigen würden ständig die Bilder der aufgedunsenen Toten in den Straßen Halabjas hochhalten. „Doch was ist mit unserer Zukunft?“, fragt Abdullah mit gehobener Stimme. Er habe Halabja überlebt und Jahre in Flüchtlingscamps im Iran verbracht. Nach seiner Rückkehr kontrollierten Radikalislamisten der Ansar al Islam die Stadt und errichteten ein den Taliban ähnliches Regime. Seit deren Vertreibung 2003 hätte Halabja nichts von den großen Investitionen gesehen.
Auf die Frage, ob Korruption dafür verantwortlich sei, blickt er schnell ärgerlich auf. „Korruption?“, fragt er zurück. „Warum unternimmt die Schweizer Justiz nichts gegen Schweizer Firmen, die durch Schmiergelder an Saddam im Schatten der UN-Sanktionen an lukrative Aufträge kamen?“

Eine Verschlechterung der Sicherheitslage wie im Zentral- und Südirak will sich bei unserem Besuch in Kurdistan niemand vorstellen können. Doch die Gefahren lauern um die Ecke: Nach Mosul und Kirkuk, neben Bagdad und Basra die größten Städte des Irak, will aus Sicherheitsgründen kein Chauffeur fahren. Noch in diesem Jahr soll gemäß Verfassung ein Referendum über die Zukunft von Kirkuk, über die Eingliederung unter kurdische Verwaltung, abgehalten werden. Keiner vermag zu garantieren, ob das Referendum stattfinden kann oder ob nicht auch die Gewalt in Kirkuk eskaliert und auf die kurdischen Gebiete übergreift.
Seit sunnitische Stämme sunnitische Terroristen gewaltsam aus dem sunnitischen Kernland vertreiben, ziehen sich diese in den letzten Monaten immer mehr in Richtung Mosul, Kirkuk und in die kurdischen Gebiete zurück. Im Mai 2007 gab es in Erbil die ersten Bombenanschläge seit 2004 mit Dutzenden Toten und Verletzten. Zugleich wiederholt die Türkei wegen der Präsenz der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in den kurdischen Gebieten und der „Kirkuk-Frage“ regelmäßig Einmarsch- und Sanktionsdrohungen und könnte im Ernstfall die Überflugrechte für die Flughäfen Erbil und Suleymaniah entziehen. Der Iran hält zeitweise für Monate wichtige Grenzübergänge geschlossen. Auch die Grenze zu Syrien wird auf Betreiben der US-Koalition immer wieder geschlossen, um den Nachschub von und für sunnitische Terroristen zu blockieren.

Würden die US-Amerikaner ihre Unterstützung für die Kurden nur ansatzweise verringern und würde sich die Terrorlinie stärker in Richtung Norden verschieben, säßen die Kurden in der Falle. Die Unruhen und Proteste im letzten Jahr haben gezeigt, dass auch in den Kurdengebieten Korruption und Vetternwirtschaft ein unerträgliches Ausmaß angenommen haben. Die innen- und außenpolitische Lage weist heute ein sehr hohes Eskalationspotenzial auf, das gerne von den kurdischen Parteien heruntergespielt wird.

Der Autor ist bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe für das Irak-Dossier zuständig: www.osar.ch/country-of-origin/iraq. Anfang April 2007 war er erneut in Kurdistan-Irak.

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