Die Meldungen aus Afghanistan geben einen falschen Eindruck vom Stand der Entwicklung, in der sich das Land befindet. Fast täglich wurden in den vergangenen Wochen Anschläge auf US-amerikanische Soldaten und westliche Einrichtungen gemeldet, findet die US-Armee automatische Raketenabschuss-Anlagen, Waffenlager oder nimmt Frauen fest, die Sturmgewehre unter ihrer Burka transportieren. Daraus ergibt sich der Eindruck, Afghanistan befinde sich im Krieg: einem Krieg des Ex-Ministerpräsidenten und Fundamentalistenführers Gulbudin Hekmatyar, um alles Westliche aus dem Land zu vertreiben.
Dieser kämpft schon seit mehr als 20 Jahren in Afghanistan und hat sich nun offenbar mit den Überbleibseln von Al Qaida und Taliban zusammengeschlossen.
Doch der Eindruck ist falsch, denn die Anschläge haben keinen sichtbaren Einfluss auf das tägliche Leben in Afghanistan. Man kann unbehelligt über Land reisen, ohne sein Leben zu riskieren. Die Straßen sind zwar in äußerst schlechtem Zustand, aber sicher. Und nachts gilt wie seit eh und je eine Ausgangssperre in allen Städten des Landes.
Afghanistan gehört zu den klassischen Beispielen eines „fehlgeschlagenen Staates“, jenen Gebilden also wie Somalia oder dem Sudan, die einfach nicht über eine feste und einheitliche staatliche Ordnung verfügen, sondern letztendlich in mehrere von unterschiedlichen Gruppen beherrschte Provinzen oder Regionen zerfallen sind. Wie man vor allem in Afrika oft gesehen hat, kann der Prozess des Zerfalls von Staaten sehr schnell gehen. Dessen Umkehrung jedoch ist fast immer eine äußerst aufwendige, langwierige und selbst mit Hilfe von außen oft wenig Erfolg versprechende Angelegenheit. Die entscheidende Frage im Fall von Afghanistan ist also: Ist das Land nun wieder auf dem Weg von einem „fehlgeschlagenen“ zurück zu einem „normalen“ Land? Die Antwort lautet: Ja, aber der Prozess steckt noch in den zartesten Anfängen.
Die US-amerikanischen Soldaten sind auch bei der Bevölkerung nicht so unbeliebt, wie viele Medien im Juli, nach der Bombardierung der Hochzeitsfeier in der Uruzgan-Provinz, wobei über 40 Menschen umkamen, beobachtet haben wollten. Ein Opium-Bauer in der als äußerst traditionell geltenden Helmand-Provinz, dem die Regierung obendrein vor ein paar Monaten seine Ernte vernichtet hat, sagte zum Beispiel: „Es ist gut, dass die Amerikaner hier sind. Sie haben die Taliban vertrieben, und sie sorgen dafür, dass sich die afghanischen Fraktionen untereinander nicht in die Haare kriegen.“
Der allgemeine Tenor im Süden ist, dass durch das Eingreifen der USA zum ersten Mal seit langem eine realistische Chance besteht, Afghanistan aus dem Schlamassel zu ziehen. Das ist der Unterschied zu früher, der sich aus zehn Jahren Herrschaft der Warlords ergibt. Denn anders als bei der sowjetischen Invasion 1979, als die Mujahedin die fast totale Unterstützung der Bevölkerung genossen, ist das bei Hekmatyar und seinen Verbündeten nicht der Fall.
Die Brand- und Bombenanschläge, die es in den letzten Wochen in allen Landesteilen auf Mädchenschulen gegeben hat, sind Rückzugsgefechte. In allen Regionen und Städten gehören die Gruppen von Schülerinnen in ihren schwarz-weißen Schuluniformen wieder zum täglichen Straßenbild. Und daran werden auch diese Anschläge nichts ändern.
Die dringendste Aufgabe für die afghanische Regierung ist im Augenblick, den übrig gebliebenen Warlords langsam das Wasser abzugraben. Der erste Schritt dazu war die Einführung der neuen Währung Afghani Anfang Oktober. Dadurch können die Kriegsfürsten nicht mehr ihr eigenes Geld drucken, und die Entscheidungsgewalt über die Geldpolitik liegt seit langem wieder bei der Regierung. Das ändert zwar noch nichts daran, dass die Zentralregierung äußerst schwach bleibt, denn sie hat so gut wie keine Steuereinnahmen und die Regionen schicken so gut wie nichts von den Zolleinkünften, weshalb sie noch auf die Hilfe der Geberländer angewiesen ist. Aber schon mittelfristig dürfte sie sich stärker als die Warlords erweisen.
Im Augenblick ist Ismael Khan im westlichen Herat, an der iranischen Grenze, der gefährlichste Gegner. Er hat das Amt des Vizepräsidenten in Karzais Kabinett abgelehnt und lebt sehr gut von den Zolleinnahmen auf der wichtigen Route aus dem Iran. Im Oktober hat er der Zentralregierung 4,5 Millionen US-Dollar zukommen lassen – was wohl mehr als eine Geste der Arroganz als ein Beitrag zum afghanischen Budget verstanden werden muss. Im Norden streiten sich Rashid Dostum und Mohamed Atta um die Vorherrschaft. Ersterer ist stellvertretender Verteidigungsminister, Atta dagegen Kommandant der afghanischen Armee im Norden. Gemeinsam kontrollieren sie den Grenzübergang nach Usbekistan und haben im Oktober aus diesen Einnahmen symbolische 100.000 Dollar nach Kabul überwiesen.
Im Osten und Süden haben ebenfalls Mujahedin das Sagen, die schon vor den Taliban regierten. Wie Karzai sind sie Paschtunen und betonen deshalb ihre uneingeschränkte Loyalität zu ihm. Sie haben sich sogar das Ziel der Regierung zu eigen gemacht, den Opiumanbau zu verdrängen, obwohl fast die ganze Ökonomie dieser Landesregion davon abhängt. Ebenso wie die anderen Warlords sind sie jedoch nicht auf die Zentralregierung angewiesen. Von ihren Zolleinnahmen bezahlen sie Soldaten und Polizisten, Beamte und teilweise auch die Lehrer, weshalb sie deren Loyalität genießen.
Dennoch arbeitet die Zeit für die Zentralregierung. Wenn die Geberländer ihre Zusagen einhalten und nicht das gesamte Geld in dunklen Kanälen in Kabul verschwindet, wird die Regierung die höheren Einnahmen haben. Und in dem Maße, wie die Ausbildung einer nationalen Armee und Polizei fortschreitet, wird Karzai, wenn er seine Karten richtig spielt, die Warlords einen nach dem anderen von der Macht verdrängen können.
Das ist jedoch nur die eine Seite der „Normalisierung“ Afghanistans. Denn – darüber sind sich die meisten HistorikerInnen einig – die tieferen Wurzeln des afghanischen Bürgerkrieges und des Staatszerfalls liegen darin, dass in dem Land alle Reformversuche gescheitert sind, ein modernes säkulares Staatswesen zu schaffen, dass also immer die Traditionalisten gewannen.
Als Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts König Amanullah eine Öffnung zum Westen versuchte, wurde er durch einen Aufstand der Stämme gestürzt. Als die kommunistische Regierung nach dem Staatsstreich 1978 daranging, ein ambitioniertes Reformprogramm in die Tat umzusetzen, kam es in vielen Regionen Afghanistans zu spontanen Aufständen. Die wichtigsten Punkte des Programms waren: eine anti-feudale Landreform und eine Alphabetisierungskampagne, Schulpflicht für Frauen sowie „aufreizende“ Forderungen wie etwa, dass Buben und Mädchen zusammen in einem Raum lernen sollten.
Aber daran, ob Karzais Regierung Afghanistan entschlossen auf den Pfad der Moderne führen wird, darf man berechtigte Zweifel anmelden. Bis auf wenige Technokraten, die nach der Flucht vor dem Bürgerkrieg wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt sind, sitzen in dieser Regierung von der höchsten bis zur niedrigsten Ebene nur ehemalige Mujahedin. Vom „Islamischen Emirat Afghanistan“ der Taliban haben sie das Land offiziell nach der Loya Dschirga im Juni in den „Islamischen Übergangsstaat Afghanistan“ umbenannt. Das „Ministerium für die Ausrottung von Laster und die Durchsetzung der Tugend“ der Taliban besteht unter anderen Namen weiter. Die konservative Fraktion im Kommunikationsministerium hat vor zwei Monaten durchgesetzt, dass keine weiblichen Sängerinnen mehr im Fernsehen auftreten dürfen.
Die Gefängnisse sind voll mit Frauen, die sich nichts anderes zu Schulden kommen ließen als sich gegen die von ihren Eltern arrangierte Hochzeit zu wehren – oft genug mit einem Partner, den sie in ihrem Leben noch nie gesehen haben. Und laut Regierung muss der Opium-Anbau in Afghanistan ausgemerzt werden, weil er gegen den Islam verstößt und nicht aus moralischen oder sozialen Gründen.
Das bedeutet: Sobald Karzais Regierung gegenüber den Warlords die Oberhand gewonnen hat, muss der Westen darauf drängen, dass sich Karzais Regierung von der Politik des „islamischen Übergangs“ distanziert. Und die Afghanis müssen verstehen, dass das wohl für lange Zeit die letzte Chance sein wird, die Modernisierung Afghanistans nachzuholen. Viele Somalis und Sudanesen warten seit Jahren vergebens auf eine solche Chance.