Anfang der 1980er Jahre begann sich der peruanische Ökonom Hernando de Soto dafür zu interessieren, warum ein Großteil der Wirtschaftsleistung in Lima jenseits staatlicher Regulierung, außerhalb des offiziellen Rechtssystems erbracht wurde – von kleinen und kleinsten Unternehmen, die es offiziell gar nicht gab, und von Menschen, die zu Hunderttausenden in Häusern lebten, die offiziell ebensowenig existierten oder für die sie keinen Rechtstitel hatten.
Einige Ursachen identifizierte er dann per Experiment: Er gründete in einem Elendsviertel in Lima eine Schneiderei mit zwei Nähmaschinen und versuchte, die Firma zu legalisieren. Das dauerte 300 Tage zu je sechs Arbeitsstunden und kostete das 32fache des monatlichen Mindestlohns. Um einen Eigentumstitel für ein Haus in einer bereits genehmigten Siedlung zu erhalten, mussten insgesamt elf Behörden und Dienststellen konsultiert werden; die Zustimmung der Stadtverwaltung erforderte 728 Einzelschritte. Seine Folgerung: Der Großteil der Betroffenen war praktisch zur Informalität gezwungen, da die offizielle Rechtsordnung ihren Bedürfnissen nicht gerecht wurde.
Was dann folgte, waren einige Jahre nervenaufreibender Kampf gegen Bürokratien und etablierte Interessen, um einige der nötigen Reformen durchzusetzen. Wunder ist in Peru zwar keines geschehen, aber eine Bilanz des von de Soto gegründeten Institute for Liberty and Democracy (ILD) von 2002 ist doch beachtlich: Mehr als sechs Millionen PeruanerInnen unter der Armutsgrenze wurden EigentümerInnen ihrer Wohnungen oder Häuser, 380.000 Unternehmen wurden legalisiert und jährlich 300 Millionen US-Dollar an zusätzlichen Steuereinnahmen lukriert.#
Auf der anderen Seite der Erde, 1976 in Bangladesch, hatte Mohammad Yunus die mittlerweile weltberühmte Grameen Bank gegründet. Er hatte erkannt, dass in Bangladesch Menschen oft nur geringste Beträge benötigten, um ein zusätzliches Einkommen als „MikrounternehmerInnen“ zu erzielen – nur war keine Bank bereit oder in der Lage, das Geld vorzustrecken. Die Transaktionskosten der Bank überstiegen den möglichen Gewinn bei weitem. Mit innovativen Methoden, das Fehlen von Kreditsicherheiten wettzumachen und hohe Rückzahlungsquoten zu sichern, konnten Mikrokredite diese Lücke schließen.
Die Unfähigkeit von Geschäftsbanken, diesen Bedarf zu decken, hatte aber auch einen anderen Grund: Die Zinsen sind bei Mikrokrediten in der Regel sehr hoch – zu hoch nach Maßgabe der Zinsregulierung, die bis in die 1980er Jahre in einem Großteil der Entwicklungsländer in Kraft war. Erst seit der späteren Liberalisierung können sie prinzipiell auch diesen Markt bedienen, was nicht heißt, dass sie sich darauf auch einlassen. Manche tun es aber, etwa die indische NABARD (National Bank for Agriculture and Rural Development), die im Geschäftsjahr 2004/5 über ihre Kooperation mit Tausenden von Selbsthilfegruppen ca. 25 Millionen arme ländliche Haushalte erreichte.
Sowohl de Soto als auch Yunus hatten institutionelle Defizite als Blockade der wirtschaftlichen Entwicklung identifiziert, als Mechanismen des Ausschlusses eines Großteils der Bevölkerung aus der offiziellen Normalität und als Hürden auf dem Weg aus Armut und Unsicherheit. Hürden, die auf Regierungsebene oft ignoriert, von der Mehrheit der Betroffenen aber sehr wohl als solche erkannt werden. In beiden Fällen ging es um Reformen oder Innovationen, um diese „ökonomische Apartheid“ zu beseitigen – letztlich um Strategien der Inklusion. Und daher auch die Empfehlung de Sotos an alle Regierungsfunktionäre, ihre Büropaläste zu verlassen, in die Straßen und Gassen zu gehen und „den bellenden Hunden zuzuhören“.
Es dauerte ziemlich lange, bis solche Zugänge zur Problematik des informellen Sektors die höchsten Ebenen der internationalen Entwicklungsbürokratie erreichten. Erst nach jahrelangem Lobbying und zahllosen Diskussionen war die Weltbank etwa bereit, die Mikrokreditidee ernst zu nehmen, klagte Mohammad Yunus später in einem Interview. 1995 wurde unter ihrem Dach die „Consultative Group to Assist the Poorest“ (CGAP) gegründet und später mit der Durchführung der internationalen Mikrokreditkampagne betraut, die auf dem Mikrokredit-Gipfel Anfang 1997 gestartet wurde.
Etwa gleichzeitig begann die Weltbank offenbar auch, den „bellenden Hunden zuzuhören“. Das Ergebnis war „Voices of the Poor“, ein Ende 1999 erschienener umfangreicher Band, der auf Gesprächen mit 60.000 armen Menschen in 60 Ländern rund um die Welt beruhte. Seit drei Jahren publiziert sie nun einen jährlichen Bericht, „Doing Business“, mit dem versucht wird, das regulatorische Umfeld für Unternehmen weltweit und allfällige Reformprozesse anhand einer fortlaufend erweiterten Liste von Indikatoren zu erfassen. Dazu gehören etwa die Bedingungen für die Gründung und die Schließung eines Unternehmens, für die Registrierung von Grund- und Hauseigentum oder die Kreditgewährung, die Durchsetzbarkeit von Verträgen, die Steuergesetzgebung oder die Flexibilität bei der Einstellung und Entlassung von MitarbeiterInnen.
Mit diesem Projekt folgt die Weltbank einerseits der – eigentlich fast banalen – Feststellung de Sotos: Der Kapitalismus kann nicht funktionieren, wenn seine institutionellen Grundlagen fehlen oder nur rudimentär vorhanden sind. Ein hohes Ausmaß der Informalität der Wirtschaft ist ein Anzeichen ungeeigneter Regulierung und disfunktionaler Institutionen, unter Einschluss der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Behörden, gesetzliche Vorgaben überhaupt durchzusetzen. Andererseits verschmelzen in diesem Zugang auch die Trends des entwicklungspolitischen Denkens und Agierens der letzten Jahrzehnte – vom verstärkten Akzent auf die Rolle des Privatsektors über die Einsicht in die Bedeutung der Qualität von Institutionen (inkl. Korruption) bis zur Konzentration auf die Armutsbekämpfung und die Millenniumsziele.
Jedenfalls bringt die neue „Doing Business“-Reihe einige vielleicht überraschende Fakten zu Tage. Etwa dass das regulatorische Umfeld für Unternehmen im Allgemeinen in den reichen Ländern weit besser ist als in den armen – und auch dort, wo man das nicht erwartet hätte. Unter den 30 Ländern, die am besten abschneiden, befinden sich nach dem letzten Bericht für 2007 z.B. alle fünf nordeuropäischen Länder, trotz hoher Unternehmenssteuern und Staatsquoten: Dänemark (Platz 7), Norwegen (9), Island (12), Schweden (13) und Finnland (14). Entwicklungsländer gibt es darunter nur vier: Thailand, Malaysia, Chile, Südafrika. Und zu den untersten 30 auf der Liste gehören außer Usbekistan, Laos, Afghanistan, Osttimor, Venezuela und Ägypten nur Länder in Afrika südlich der Sahara.
Was hier gemessen wird, ist nicht das Ausmaß der „Deregulierung“, sondern die Angemessenheit der Regulierung. Das zeigen auch einige drastische Beispiele. Wer etwa profitiert im westafrikanischen Sierra Leone davon, dass sich das Land den mit einer gesetzlichen Abfertigung von 188 Wochenlöhnen weltweit strengsten Kündigungsschutz leistet? Wer davon, dass die Registrierung eines Grundstücks in Bangladesch 363 Tage dauert? In Norwegen dauert das nur einen Tag, in Schweden zwei. Oder davon, dass im Tschad, in der Republik Kongo und in Simbabwe die Registrierung mehr als 20% des Werts des Grundstücks verschlingt? (In der Slowakei kostet das nur 0,1%!) Und davon, dass es in Indien bis vor der jüngsten Reform mehr als 3.300 Tage (heute: 200 Tage) dauerte, um eine Kreditsicherheit einzutreiben?
Es gibt auch Absurdes. Wer in Osttimor Schulden von 1.000 US-Dollar eintreiben will, müsste 1.800 Dollar an Gerichts- und Anwaltsgebühren berappen. Und wer als Mittelbetrieb in der Konsumgüterherstellung in Weißrussland alle Steuern pflichtgemäß bezahlt, hätte insgesamt 122% seines Bruttogewinns abzuliefern, bei einem Arbeitsaufwand von knapp 1.200 Stunden jährlich.
Nun kann dieser neue Fokus auf endogene Entwicklungsblockaden zweifellos als Ablenkung von exogenen Ursachen von Armut und zu geringem Wirtschaftswachstum aufgefasst werden – insbesondere von Machtasymmetrien am Weltmarkt, der Handelsliberalisierung oder den Folgen einer brutalen „strukturellen Anpassung“. Umgekehrt aber auch als Eingeständnis, dass mit der den armen Ländern abgeforderten außenwirtschaftlichen Liberalisierung vielleicht das Pferd am Schwanz aufgezäumt wird: Offenbar können viele Länder die „Chancen der Globalisierung“ nicht richtig nutzen, weil ihren Unternehmen die Voraussetzungen fehlen – etwa das förderliche regulatorische Umfeld.