Postcolonial Studies sind ein noch junges akademisches Fach. Bisher bieten es hauptsächlich US-amerikanische, australische und britische Universitäten an. In Wien war Elisabeth Mudimbe-Boyi von der kalifornischen Universität Stanford zu Gast, um von Postcolonial Studies in den USA zu berichten.
Was haben der Ire James Joyce, Salman Rushdie aus Indien, die Algerierin Assia Djebar und die Neuseeländerin Janet Frame gemeinsam? Sie alle sind postkoloniale AutorInnen. Sie alle geben einer kulturellen Erfahrung Ausdruck, die durch den Kontakt mit europäischem Imperialismus von Grund auf geprägt, verändert worden oder überhaupt neu entstanden ist. Sie alle haben Werke geschrieben, die Sprache und Geschichtsschreibung der ehemaligen Eroberer unterwandern. Zumindest sieht das die postkoloniale Literaturkritik so. Wie wirkt sich Kolonialismus in der Sprache, Kunst, Kultur sowohl ehemals Kolonisierter als auch der Kolonisierer aus? Lassen sich indische Romane mit australischen vergleichen, weil sie „postkolonial“ sind? Über Fragen wie diese ist vor allem im englischen Sprachraum seit Ende der 1980er Jahre eine Debatte in Gang, die auch die Geistes- und Kulturwissenschaften hierzulande erfasst. In Wien war Elisabeth Mudimbe-Boyi, Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft und Romanistik an der kalifornischen Universität Stanford zu Gast, um über den gegenwärtigen Stand von Postcolonial Studies in den USA zu berichten.
Was postkoloniale Identität bedeutet, hat Mudimbe-Boyi nicht an der Universität, sondern im Leben gelernt. Als sie in den 1950er Jahren die Volksschule besuchte, war ihr Heimatland Kongo französische Kolonie. In der Schule lernte sie, ihre Vorfahren wären die Gallier gewesen. Die Schulbücher zeigten Schnee, Eis und Apfelbäume. Mudimbe-Boyi besuchte Elite-Schulen mit Unterrichtssprache französisch. Obwohl sie die vier Nationalsprachen Kongos spricht – Kiluba, ihre Muttersprache, Lingala, Kikongo und Swahili – hat sie in keiner davon zu schreiben gelernt. Nach ihrem Studium der Romanistik an Universitäten im belgischen Leuven, in Kinshasa, Lubumbashi, Paris, Mailand und Brescia startete sie ihre wissenschaftliche Laufbahn 1970 als Assistenzprofessorin an der Universität in Lubumbashi im Südosten Kongos. Dann, als sie mit ihrem Mann, dem Philosophen und Schriftsteller Valentin Mudimbe 1980 ein Jahr Auszeit in den USA verbringt, kommt der Bruch: Das Akademiker-Ehepaar erhält das Angebot, nach der Rückkehr politische Posten einzunehmen. Hohe Funktionen, aber de facto hätten sie unter dem autoritären Regime von Mobutu Sese Seko nichts zu sagen gehabt. Die beiden weigern sich. Ihre Angehörigen und FreundInnen zuhause geben ihnen den Rat: „Wenn ihr nein sagt, bleibt ihr besser gleich, wo ihr seid.“
So beginnt das Exil. Nach Jahren mit Teilzeitarbeit und Ein-Jahres-Verträgen an verschiedenen amerikanischen Universitäten erhält Mudimbe-Boyi mit 47 Jahren ihren ersten, wie sie sagt, „richtigen Job“ an der Universität Stanford in Kalifornien, der 1995 in eine unbefristete Anstellung übergeht. So kommt es, dass die Kongolesin heute eine Autostunde von San Francisco entfernt in englischer Sprache französischsprachige Literatur aus Afrika und der Karibik lehrt.
Was hält sie, die postkoloniale Exilwissenschafterin, von der postkolonialen Debatte? Mudimbe-Boyi sieht es pragmatisch: Für sie ist das Etikett „postkolonial“ mit dem Interesse, das es zu wecken vermag, eine Möglichkeit, eine neue Art von Literatur und Kunst in die Lehr- und Studienpläne zu bringen. Dies ist ihrer Ansicht nach in den vergangenen 15 Jahren gelungen: 1989 veröffentlichten Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helene Tiffin „The Empire Writes Back“ – „das Imperium schreibt zurück“. In diesem Buch brachten die drei AnglistInnen von Universitäten in den USA und Australien erstmals die gesamte englischsprachige Literatur, die außerhalb Englands entstanden ist, auf einen gemeinsamen Nenner. Ob aus Indien, Kanada oder dem Pazifik, immer stehe die Literatur in einem bestimmten Verhältnis zur Imperialmacht, deren Einfluss bis heute wirkt, und immer gehe es um Fragen der kulturellen Identität. Auch wenn es, laut Mudimbe-Boyi, wenig Sinn hat, alles in einen Topf zu werfen, sind Postcolonial Studies nützlich. Sie machen auf Werke von AutorInnen und KünstlerInnen aufmerksam, die in den traditionellen Disziplinen wie Anglistik, Romanistik, Literaturwissenschaft oder Kunstgeschichte sonst vernachlässigt würden.