Das zweite Lampedusa

Von Stefan Brocza · · 2014/07

Die französische Insel Mayotte im Indischen Ozean gehört seit Anfang 2014 zur EU. Dieser Umstand sowie die geografische Lage machen sie für MigrantInnen aus Afrika interessant.

Über 6.000 Kilometer trennen die zwei Inseln Lampedusa im Mittelmeer und Mayotte im Indischen Ozean. Doch eines haben sie gemein: sie sind in großem Ausmaß Ziel von MigrantInnen, die nach Europa wollen. Derzeit kommen bis zu 200 Personen täglich nach Mayotte. Immer wieder sterben Menschen bei der Überfahrt. Mahnende Stimmen warnen vor einer Flüchtlingstragödie im Indischen Ozean.

Die Insel gehört geographisch zum Komoren-Archipel und liegt nordwestlich von Madagaskar. Mayotte ist aber auch ein Übersee-Département sowie eine Region Frankreichs. Seit Anfang des Jahres gehört die Insel zur Europäischen Union. Und sie ist auch aus einem anderen Grund ein immer begehrteres Ziel von MigrantInnen aus Afrika: Zwischen Mayotte und den anderen Inseln der Komoren gibt es keine Grenzkontrollen. Das hat mit der Geschichte der Inselgruppe zu tun: Nach einer Volksabstimmung sagten sich die Komoren 1975 einseitig von Frankreich los, die Union der Komoren wurde gegründet. Dies betraf jedoch nicht Mayotte. Das dortige Abstimmungsergebnis brachte eine Mehrheit für den Verbleib bei Frankreich. Da der Staat der Komoren allerdings weiterhin die Meinung vertritt, dass auch Mayotte dazu gehören müsste, werden Personen nicht überprüft, die sich mit den lokalen „kwassa-kwassa“, den traditionellen Fischerbooten der Region, auf den Weg Richtung Mayotte machen.

Auch die Personenkontrollen innerhalb von Mayotte sind schwierig: Nur die Hälfte der BewohnerInnen hat einen Pass, das Meldewesen ist lückenhaft. Die durchwegs ortsfremden, zumeist aus Frankreich stammenden Polizeikräfte kennen sich mit den lokalen Begebenheiten kaum aus. Nicht zuletzt wegen Sprachbarrieren tun sie sich oft schwer, Personen ohne Papiere zu identifizieren. Der Großteil der Menschen ohne Papiere, die nach Mayotte übersetzen, bleibt auf der Insel und reist nicht nach Europa weiter. Reisefreiheit in der EU besitzen nur jene mit Papieren. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass die Zahl der Asylanträge, die in Mayotte gestellt werden, in der nächsten Zeit deutlich steigen wird.

Mayotte ist mit der Union der Komoren auf unterschiedliche Weise vernetzt: etwa über Familien, die auf mehrere Inseln verteilt leben. Dazu kommt, dass „Papierlose“ auf Mayotte billige Arbeitskräfte darstellen. Oft werden sie sogar mit Zutun lokaler UnternehmerInnen ins Land gebracht. Mitunter geht der Missbrauch dabei so weit, dass die betroffenen UnternehmerInnen kurz vor Zahltag selbst die Papierlosen bei der Polizei anzeigen. Durch Abschiebungen ersparen sie sich die Lohnauszahlungen.

Allein im ersten Halbjahr 2011 (aktuellste amtliche Zahlen) kam es so zu 27.000 Abschiebungen, die die Stimmung sowohl in Mayotte als auch auf den Komoren belasten. Dabei ist die Situation auf Mayotte selbst alles andere als rosig: 310 Euro macht das monatliche Durchschnittseinkommen aus, 26 Prozent der Bevölkerung und 42 Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos.

Die Gesellschaft in Mayotte weist einige Besonderheiten auf. Rund 40 Prozent der Menschen auf der Insel haben einen ungeklärten Aufenthaltsstatus. Die Bevölkerung ist sehr jung, von den rund 200.000 BewohnerInnen sind 53 Prozent unter 20 Jahre alt. Die Menschen auf Mayotte sind meist Bantu-stämmig und zu etwa 97 Prozent AnhängerInnen eines afrikanisch geprägten Islam. Nur etwa 35 Prozent von ihnen sprechen Französisch, so wenig wie in sonst keinem anderen französischen Überseegebiet. Gebräuchlich sind vor allem Swahili- und Malagasy-Dialekte.

Wie kam es zur Liaison mit Frankreich? Nach der Pro-Frankreich-Entscheidung in den 1970er Jahren näherte sich Mayotte über die Jahre weiter an, 2011 wurde Mayotte schließlich das 101. Département der Republik Frankreich. Der 2014 vollzogene EU-Statuswechsel ist somit der Schlusspunkt einer langen Entwicklung.

Der Status bringt der Insel, de facto ein afrikanisches Least Developed Country, Möglichkeiten: Die moderne, urbane und französischsprachige Oberschicht hat so die Gelegenheit, sich als Teil der Industrienationen zu fühlen. Die Infrastruktur, die Spitäler und das Schulwesen werden von Paris finanziert und stark gefördert. Mayotte kann sich zudem von den armen und instabilen Komoren abgrenzen. Die tausenden Armutsflüchtlinge werden immer wieder als Sündenböcke für Probleme – wie überfüllte Schulen und Spitäler – missbraucht.

Der Umstand, dass manche in Mayotte die EU-Grenzagentur Frontex herbeisehnen, zeigt, wie dramatisch die Lage bereits ist. Frontex wird aufgrund seines Umgangs mit Flüchtlingen, vor allem im Mittelmeer, immer wieder heftig kritisiert.

Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und internationale Angelegenheiten. Er lehrt an den Universitäten Wien und Salzburg.

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