Das thailändische Rätsel

Von Nicola Glaß · · 2004/07

Seit einem halben Jahr eskaliert die Gewalt in den muslimischen Südprovinzen Thailands. Viele Menschen verschwinden, andere werden ermordet. Das Kriegsrecht konnte weder die Situation beruhigen noch die AkteurInnen des Konflikts ausforschen.

Die Muslimin, die der thailändische Politiker Banyat Bantadtan kürzlich besucht hat, ist verzweifelt: Seit Monaten ist ihr Ehemann, Lehrer an einer Koranschule, verschwunden. „Bewaffnete Männer kamen in einer Nacht Ende Jänner in unser Haus und brachten ihn in einem Auto weg“, so die verzweifelte Norida Damae. Gleich am nächsten Morgen sei sie zur Polizei gegangen. Aber bis heute wisse angeblich niemand, was mit ihrem Mann passiert sei. Die Geschichte ist kein Einzelfall.
Seit die Regierung von Thaksin Shinawatra Anfang des Jahres das Kriegsrecht in den thailändischen Südprovinzen Narathiwat, Yala und Pattani verhängt hat, sind viele Menschen auf mysteriöse Weise verschwunden. Viele KritikerInnen der Regierungspolitik sind besorgt, dass die von Premier Thaksin angekündigte Verschärfung des Kriegsrechts weitere Gewalt nach sich ziehen werde. So war es kein Zufall, dass am Morgen des 12. Juni vor dem Haus eines Richters in der Provinz Narathiwat eine Bombe explodierte. Nur kurz zuvor hatte Thaksin in seiner wöchentlichen Radioansprache eine härtere Gangart angekündigt.
Der Süden des vorwiegend buddhistischen Landes war vor allem in den 1980er Jahren Brennpunkt muslimischer Separationsbestrebungen. Doch seit gut einem halben Jahr ist er erneut zum Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen geworden. Begonnen hatte alles am 4. Jänner, als mutmaßliche Rebellen ein Armeecamp überfielen. Seitdem gibt es fast täglich Meldungen über Morde, Brandschatzungen und Razzien. Längst richtet sich die Gewalt nicht mehr nur gegen Polizei, Militärs und lokale Politiker. Auch Lehrer, Plantagenarbeiter, sogar buddhistische Mönche wurden zur Zielscheibe tödlicher Attacken. Einer der bislang blutigsten Tage war der 28. April. Nach Angaben des Militärs waren an jenem Vormittag rund 107 muslimische Jugendliche getötet worden. Allein beim Sturm von Soldaten auf die berühmte Krue-Se-Moschee in Pattani, in der sich die nur mit Messern oder Macheten bewaffneten Aufständischen verschanzt hatten, kamen mehr als 30 Menschen ums Leben.
Bis heute ist unklar, wer hinter den Attacken steckt; die Regierung ist sich offenbar selbst nicht über die Ursachen der blutigen Auseinandersetzungen im Klaren. Abwechselnd mutieren die Aufständischen in offiziellen Berichten von „Banditen“ zu „Terroristen“ und dann wieder zu „Kriminellen“. Thaksin versucht es mit dem höchst fragwürdigen Prinzip von „Zuckerbrot und Peitsche“: Während das Kriegsrecht weiter verschärft wird, verspricht Bangkok dem armen Süden gleichzeitig wirtschaftliche Unterstützung.

Klar sind aber die tieferen Ursachen für den Konflikt: Durch die von Bangkok eingesetzten staatlichen Autoritäten vor Ort fühlen sich die Muslime als Menschen zweiter Klasse abgestempelt. Zunehmend klagt die muslimische Minderheit, die in Thailand nur etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, über staatlichen Machtmissbrauch: darüber, dass Menschen spurlos verschwinden. Dass Polizei, Militärs und Aufständische gleichermaßen in lukrative Schmuggelgeschäfte involviert sind. Und dass stets die Muslime als Sündenböcke herhalten müssten, nur weil die Sicherheitskräfte ihren Vorgesetzten in Bangkok gefallen wollten. Somit ist nicht auszuschließen, dass diese Ungerechtigkeiten potenziellen separatistischen Bestrebungen neuen Aufwind gegeben haben.
Es ist auch nur schwer auszumachen, welche der Koranschulen im Süden, auch „pondoks“ genannt, Separatisten und Militante hervorbringt. Die Mehrheit der Muslime gilt als moderat. Sie fordern lediglich das Recht, ihre Kultur leben zu dürfen. KritikerInnen werfen der Regierung vor, die schwelenden Probleme von Anfang an ignoriert zu haben. Der ehemalige Außenminister Surin Pitsuwan, selbst Muslim aus dem Süden, warnte kürzlich davor, die Religion anzutasten. Er forderte im Gegenzug, den „pondok“-Absolventen bessere Bildungschancen an den staatlichen Hochschulen einzuräumen. Auch solle Bangkok seine Repräsentanten für die muslimischen Gebiete künftig sorgfältiger auswählen: „Die jetzige Mentalität ist die, dass man keine Leute dorthin sendet, die sich auskennen und auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen“, so Surin mit einem Seitenhieb auf die Regierung. Das habe zu Misstrauen und zu Vertrauensverlust geführt: „Das war immer schon das klassische Problem des Südens.“

Die Autorin lebt seit mehreren Jahren als freie Südostasien-Korrespondentin für Hörfunk und Printmedien in Bangkok.

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