Das Recht des Stärkeren

Von Dominic Johnson · · 2001/06

Am Horn von Afrika stehen Regierungen vor einer herkulischen Aufgabe: Den Teufelskreis aus Unsicherheit, Armut, Überangebot an Kleinwaffen, Kriminalisierung der Ökonomie und privater Aufrüstung zu durchbrechen.

Garissa stinkt. Im drückend heißen Ramadan liegt die Bevölkerung der Hauptstadt von Kenias North Eastern Province tagsüber regungslos vor ihren Häusern, während der trockene Wind Plastikfetzen und Unrat durch die staubigen Straßen bläst. Den Fastenden geht es gut: Sie ruhen im Schatten. Am Stadtrand, wo der Abfall sich in Haufen türmt, gibt es kein Entrinnen vor der Sonne. Hier lebt in Lagern aus Stroh und Müll die Pariah-Bevölkerung von Garissa: Somalische Flüchtlinge, die in der großen Stadt Zuflucht und Einkommen suchen.

”Hier ist es besser. In der Stadt herrscht Frieden“, erklärt eine Flüchtlingsfrau, die mit ihren vier Kindern und einer Ziege in einer Rundhütte aus Lumpen und Speiseölkanistern haust. Wo ihr Mann Mohammed Bole ist, weiß sie nicht. Vor drei Tagen erst floh sie aus ihrer 300 Kilometer entfernten Heimat vor Kämpfen zwischen somalischen Clans in die Provinzhauptstadt. Kriege zwischen somalischen Hirtenclans sind endemisch im unruhigen Nordosten Kenias, der aus diesem Grund jahrzehntelang unter Ausnahmerecht stand.

”Hier herrscht das Recht des Stärkeren“, klagt Provinzgouverneur Maurice Makhanu. ”Unsere Provinz grenzt an Äthiopien und Somalia und wir leiden darunter, dass das Chaos aus diesen Ländern zu uns herüber schwappt.“

Nach Lesart der kenianischen Regierung wird die Unsicherheit in Kenia von außen ins Land hineingetragen – in Form von geschmuggelten Gewehren, mit denen dann Verbrecher in Kenia Überfälle begehen und traditionelle Landkonflikte blutig ausgetragen werden können. ”Die Gegend ist voller illegaler Waffen“, sagt der Polizeichef von Garissa. Bemühungen, sie einzusammeln, seien aber wegen des unerschöpflichen Nachschubs zum Scheitern verurteilt. Wie zum Beweis zeigt die Polizei ihr Arsenal beschlagnahmter und freiwillig abgegebener Waffen vor: 30 Kalaschnikows – das ist die magere Ausbeute seit Januar 1999. ”Wer eine alte Waffe abgibt, hat meistens bereits eine neue gekauft“, seufzt der Provinzgouverneur.

Das Horn von Afrika ist mit Kleinwaffen überschwemmt. Die massive Aufrüstung der Diktatoren Siad Barre in Somalia und Mengistu Haile Mariam in Äthiopien in den späten siebziger und achtziger Jahren, jeweils nacheinander von beiden Supermächten in einer afrikanischen Variante des Ost-West-Konflikts, hinterlässt bis heute ihre Spuren. So ermöglichten die vielen Gewehre, die Deutschland nach 1977 an Somalia verkaufte, als Dank für die Hilfe bei der Erstürmung eines von einem palästinensischen Kommando nach Mogadischu entführten Lufthansa-Flugzeuges, 1991 den Sturz Siad Barres durch Rebellen und danach die gleichmäßige Aufrüstung aller somalischen Clans in einem Konflikt aller gegen aller, der bis heute andauert.

Aber viele dieser Waffen geraten auch über die Grenzen – zunächst nach Kenia, dann auch in Nachbarländer und nach UN-Recherchen zuweilen bis in die Kriegsregion der Großen Seen um Ruanda und in den Kongo. Eine russische Kalaschnikow kostet in Garissa umgerechnet 1000 bis 3000 österreichische Schilling, eine deutsche G-3 aus den alten somalischen Beständen etwa 4000.

”Die Verbreitung von Kleinwaffen bedroht die Existenz unserer Völker“, sagt Daniel Yifru von der ostafrikanischen Regionalorganisation IGAD. ”Konflikte, die einst lokal blieben, verwandeln sich in Konflikte hoher Intensität.“

Sam Ibok, politischer Direktor der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU), konstatiert: ”Am ganzen Kontinent wird das Verbrechertum stärker, weil es immer mehr Waffen gibt. Viehdiebstahl, Wilderei, und Plünderei nehmen überall zu.“

Doch Konflikte entstehen nicht nur, weil es Waffen gibt, sondern Waffen werden gekauft, weil es bereits einen akuten oder potentiellen Konflikt gibt. Die Verbreitung von Kleinwaffen beruht auch auf einer starken Nachfrage. Lokale Organisationen am Horn von Afrika haben zusammen mit dem Bonner International Centre for Conversion (BICC) Forschungsprojekte gestartet, die in verschiedenen Ländern zum Schluss gekommen sind: Die Gesellschaften der Region haben einen scheinbar unerschöpflichen Bedarf an Feuerwaffen.

Die somalischen Flüchtlinge in Garissa, die vor Clankriegen flohen, können Gewehre zum Selbstschutz gut gebrauchen – denn alle anderen haben sie schon. ”Nachts kommen die Banditen“, regt sich der poliogelähmte Abdi Jamah in seinem aus Fahrradteilen gebastelten Behelfsrollstuhl auf. ”Aber die Polizei patrouilliert hier nie. Wir können unseren Kleinhandel nicht weiterbetreiben, weil Räuber unsere Sachen stehlen. Wir können uns nicht verteidigen. Die Banditen sind bewaffnet. Wenn man ihnen nichts gibt, erschießen sie einen.“

Für die meisten Menschen am Horn von Afrika ist Waffenbesitz eine Selbstverständlichkeit. ”In Äthiopien gehört es sich für einen Burschen, ab dem Alter von zehn Hosen zu tragen und ab dem Alter von fünfzehn ein Gewehr oder einen Knüppel“, erklärt Oberst Legesse Gerima vom äthiopischen Verteidigungsministerium. ”Gewehrbesitz hat ökonomischen und sozialen Wert.“ Die somalischstämmige Kenianerin Ebla Haji Aden, Mitarbeiterin einer Entwicklungsinitiative in Garissa, sagt: ”Die Somalis leben von Viehzucht; sie brauchen Gewehre zur Verteidigung ihres Eigentums, da der Staat sie nicht schützt. Wer Gewehre hat, kontrolliert den Großteil der Ressourcen. Die meisten Jugendlichen sind arbeitslos und kaufen sich Gewehre als Einkommensquelle.“

Staatliche Versuche, Privatleuten den Waffenbesitz zu verbieten oder illegale Waffen zu beschlagnahmen, sind zum Scheitern verurteilt, wenn eine Gesellschaft das staatliche Gewaltmonopol als Bedrohung ihrer Existenzgrundlage ansieht. Zunehmend gehen die Regierungen am Horn von Afrika daher den Weg, Waffenbesitz nicht zu unterdrücken, sondern zu regulieren. Äthiopien erlaubt heute privaten Waffenbesitz ohne Beschränkung, solange die Waffen angemeldet werden. Offiziell geschieht dies aus Respekt vor der gesellschaftlichen Tradition. Tatsächlich wird so auch dem Umstand Rechnung getragen, dass Gewehre aus den Arsenalen der Sicherheitskräfte gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft werden.

Eine ähnliche Politik wird in der Republik Somaliland verfolgt, der international nicht anerkannten nordsomalischen Abspaltung vom Rest Somalias. 80 Prozent der männlichen Bevölkerung Somalilands sind nach offiziellen Angaben bewaffnet. Die Regierung verfolgt nun eine Politik namens ”Remobilisierung für Demobilisierung“: Alle in Milizen organisierten Waffenträger werden in den Regierungsstreitkräften zusammengezogen, und erst wenn dies abgeschlossen ist, soll eine Demobilisierung von Soldaten mit Waffenabgabe erfolgen.

Ein negatives Gegenbeispiel ist Uganda, in dessen Nordosten ein alter Konflikt um Landrechte und Viehbesitz zwischen den Völkern der Karimojong und der Pokot in den letzten Jahren bürgerkriegsähnliche Ausmaße angenommen hat. Dort trug die Regierung 1999 zur Eskalation bei, als sie zwecks ”Befriedung“ Luftangriffe auf kämpfende Clanmilizen flog. Diese begannen dann, noch mehr Waffen zu kaufen, um gegen die Regierung zu kämpfen. Heute sind in der nordostugandischen Provinz Karamoja Elitetruppen mit Kriegserfahrung aus dem Kongo stationiert – nicht gerade ein Mittel, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen.

”Wenn man den Leuten mehr Sicherheit bietet, könnte dies den Markt für Kleinwaffen austrocknen helfen“, erkennt im kenianischen Garissa Bürgermeister Mohammed Duale. ”Unsicherheit führt zu Armut, und diese hält den Kreislauf der Gewalt am Leben.“

Lokale Clanführer im Nordosten Kenias klagen, der Staat gäbe seine knappen Wnanziellen Mittel vor allem für die eigenen Sicherheitskräfte aus. ”Unser Problem ist, dass wir kein Geld haben“, sagt ein Ältester mit langer Kriegserfahrung. ”Die Regierung gibt für Sicherheit viel Geld aus. Wenn stattdessen wir dieses Geld hätten, gäbe es keine Unsicherheit.“

Sogar auf OAU-Ebene ist inzwischen die Einsicht durchgedrungen, dass das Kleinwaffenproblem in Afrika vor allem ein Problem von ”Good governance“ ist – wo es diese gibt, spüren die BürgerInnen nicht den Wunsch, sich selbst mit Waffen gegen den Staat zu schützen.

Entsprechende Bemühungen kann man Kenias Regierung nicht absprechen. Soeben hat die Nordostprovinz, deren somalische Bevölkerung noch in den sechziger Jahren einen Krieg für mehr Selbstbestimmung gegen die Zentralregierung führte und ihre Niederlage blutig bezahlte, endlich einen einheimischen Gouverneur bekommen. Das Ergebnis: Der neue Machthaber genießt bei den Somalis keinerlei Respekt. Schließlich gehört er ja einem somalischen Clan an, und daher verdächtigen ihn alle anderen Clans der Parteinahme. ”Gute Regierungsführung“ kann auch schief gehen.

Der Autor ist Afrika-Redakteur der Berliner ”taz“.

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