„Das Leben in der Weltgesellschaft ist nicht einfach“

Von Annette Scheunpflug · · 2004/04

Die Erziehungswissenschaftlerin Annette Scheunpflug ist eine Vordenkerin des „Globalen Lernens“. Mit ihr sprach SÜDWIND-Redakteurin Irmgard Kirchner über Lernen im Zeitalter der Globalisierung.

SÜDWIND: Sie bezeichnen Globales Lernen auch als „pädagogische Reaktion auf die Entwicklungstatsache der Weltgesellschaft“. Man hört auch die Bezeichnung „Persönlichkeitsbildung im Welthorizont“. Das klingt ja sehr nützlich in Zeiten der Globalisierung. Sollte nicht auch die alltägliche Pädagogik diese Ziele verfolgen?
Annette Scheunpflug:
Sicherlich sollten globale Aspekte deutlich stärker im Curriculum verankert sein. Globales Lernen könnte gut eine Grundlage für das Lernen im 21. Jahrhundert darstellen. Es wird ja auch – zum Beispiel von Preuß-Lausitz – die Auffassung vertreten, interkulturelles Lernen als Grundlage jeglichen pädagogischen Handelns zu sehen, da mit zunehmender gesellschaftlicher Heterogenität die Menschen so unterschiedlich wären, dass jeder Umgang miteinander eine Art interkultureller Begegnung darstellt. Ich halte solche Überlegungen jedoch nur für eine theoretisch interessante Option.
Aus der pragmatischen Perspektive hingegen ist eine solch starke Forderung nicht sinnvoll. Dann würde im Endeffekt vielleicht Englisch gegen Globales Lernen ausgespielt. Es ist angemessener, verschiedene Bildungsverständnisse nebeneinander zu transportieren.

Warum ist Globales Lernen immer noch ein „Minderheitenprogramm“?
Globales Lernen ist sicherlich nicht so stark verankert, wie sich das seine Protagonisten wünschen. Das Bildungsangebot ist jedoch vielfältigen gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt. Vor dem Hintergrund dieses Konzertes des Pluralismus, das auf die Schule einwirkt, finde ich es relativ bemerkenswert, wie sehr sich dieser schwierige Lerninhalt in den letzten 20 oder 30 Jahren an vielen Stellen zum Beispiel im Schulwesen oder in Weltläden etablieren konnte. Von daher sollte man nicht zu pessimistisch von einem Minderheitenprogramm sprechen.

Funktioniert Globales Lernen?
Es ist die Frage, was man unter ‚funktionieren‘ versteht! Wenn man Globales Lernen so versteht, dass dadurch die politische Landschaft verändert werden soll, dann bin ich der festen Überzeugung, dass Globales Lernen nicht ‚funktioniert’, d.h. nicht die gewünschten Effekte bringen wird. Aus zwei Gründen: Einmal aus pragmatischen Gründen. Die Erwartung, dass Bildungsbemühungen direkten und sofort spürbaren Einfluss auf politische Zusammenhänge bewirken, wird der Komplexität von Politik nicht gerecht. Wenn viele kleine Menschen viele kleine Schritte tun, dann verändert sich eben nicht das Bild der Welt. Zum anderen sprechen bildungstheoretische Überlegungen gegen eine solche Erwartung: Es geht beim Globalen Lernen darum, Aufklärung zu leisten, und Menschen zu befähigen, in der Weltgesellschaft verantwortlich – aber nach ihren Maßstäben – zu leben. Diese Aufklärung ist das Kerngeschäft von Bildung. Das bedeutet aber auch zu akzeptieren, dass Menschen sich anders entscheiden und nicht mit den Zielen Globalen Lernens konform gehen. Alles andere wäre eine Form von Manipulation, von politischer Instrumentalisierung, auch wenn es für gute Ziele ist. Wenn man hingegen Globales Lernen als ein Bildungsarrangement versteht, dann würde ich sagen: Ja, Globales Lernen funktioniert.

Gibt es ideologische Grundannahmen innerhalb des Globalen Lernens, die von der Mainstream-Pädagogik nicht geteilt werden? Welchen Stellenwert haben Begriffe wie Gerechtigkeit und Solidarität?
Das zentrale Anliegen Globalen Lernens ist die Auseinandersetzung über Gerechtigkeit im weltweiten Horizont. Immer wieder geht es um diese Fragestellungen. Ist Globales Lernen deshalb eine Ideologie? Manche unterstellen dies. Ich sehe hier in der Tat noch einen gewissen Arbeitsbedarf der Erziehungswissenschaft, die Frage nach der Gerechtigkeit im Kontext des Globalen Lernens und des Zusammenhanges zwischen Erziehung, individuellem Verhalten, Solidarität und Gerechtigkeit noch zu schärfen.

Es ist eine Ihrer Forderungen, das Globale Lernen vom „Gutmenschsein“ zu befreien und stärker auf die Sachebene zu bringen.
Das ist vor allem wichtig im Hinblick auf die Professionalisierung der Szene selbst. Es ist häufig zu beobachten, dass sich Akteure, die sich mit Globalem Lernen beschäftigen, der Qualitäts- und Konzeptdebatte deshalb entziehen, weil sie gute Absichten haben, und damit automatisch auf der „guten Seite“ stehen. Auch müsste die Auffassung, dass jemand, der im Süden war, Globales Lernen automatisch ohne weitere pädagogische Kenntnis vermitteln kann, langsam ausgedient haben. Eine stärkere Konzentration auf die wahrnehmbaren Effekte der eigenen Arbeit und eine stärkere Distanz zu den eigenen guten Absichten könnte ein klareres und strategischeres Vorgehen unter NGOs ermöglichen.

Sie stellen sehr hohe Anforderungen an das Globale Lernen als pädagogische Praxis. Schließlich geht es bei der Globalisierung um abstrakte, hochkomplexe Prozesse, die mit viel Unsicherheit für das Individuum verbunden sind. Sind da nicht sowohl Lehrkräfte als auch Schülerinnen und Schüler überfordert?
Für Schülerinnen und Schüler ist das sicherlich eine hohe Anforderung. Die liegt aber nicht darin begründet, dass das Konzept des Globalen Lernens so schwierig ist. Vielmehr ist das Leben in der Weltgesellschaft nicht gerade einfach.
Das Argument, dass es sich um ein schwieriges Aufgabengebiet handelt, sagt noch nichts über die damit verbundene Überforderung aus. Wenn es um Fremdsprachenlernen oder um naturwissenschaftliche, mathematische Zusammenhänge geht, sind diese hohen Anforderungen selbstverständlich. Eine anspruchsvolle Sozialerziehung in der Weltgesellschaft ist nicht zum Nulltarif zu bekommen. Die pädagogische Professionalität für Globales Lernen muss durch entsprechende Konzepte und Fortbildungen erst noch in größerem Umfang geschaffen werden.

In der Praxis setzt das Globale Lernen meist bei engagierten Lehrerinnen und Lehrern an. Die haben dann oft noch gegen den Widerstand der Schulstruktur zu kämpfen. Wie kann man Globales Lernen so verankern, dass es nicht auf den Schultern der einzelnen Lehrerinnen und Lehrer hängen bleibt?
Es ist sehr wichtig, deutlich zu machen, dass so etwas wie Globales Lernen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, an der sich innerhalb der Schule verschiedene Akteure – also auch NGOs – engagiert beteiligen sollten. Globales Lernen kann nicht allein durch die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer individuell getragen werden. Wichtig ist die Unterstützung durch Lehrerfortbildungen, unterstützende Eltern oder NGOs.

Sie mahnen zu Vorsicht im Umgang mit Authentizität. Viele NGOs setzen sie ganz gezielt ein: zum Beispiel in Gestalt afrikanischer Referenten, die über Kakao referieren. Ist das kontraproduktiv?
So lange man Authentizität als didaktisches Mittel und nicht als politisches Argument benutzt, finde ich das völlig unproblematisch. Die konkrete Erfahrung ist ein guter Einstieg für Schülerinnen und Schüler. Globales Lernen erfordert aber, dass diese Authentizitätserfahrung auch weiter reflektiert wird. Sie dient quasi als Trittbrett für einen abstrakteren Erkenntnisgewinn, der sich häufig nicht von selbst einstellt. Leider wird auf diesen nachfolgenden Schritt der Reflexion nicht immer die nötige Sorgfalt verwandt. Viele Lehrkräfte arbeiten einen solchen Referentenbesuch mit der Klasse nicht hinreichend nach, und auch die NGOs verwenden auf diesen Schritt nicht immer genug Expertise, zum Beispiel in der didaktischen Schulung von Referenten.
Weil die authentische Erfahrung zudem sehr beeindruckend ist, besteht die Gefahr, dass sie als allgemeine Erkenntnis generalisiert wird. Wenn mir jemand aus eigener Anschauung erzählt hat, die Anbaubedingungen für Kakao seien so oder so, werde ich das immer für wahrer nehmen als alle statistischen Zahlen, die darüber gelernt werden. Darin liegen die Chancen, aber auch die Probleme einer authentischen Begegnung.


Globales Lernen

Globales Lernen versteht sich als pädagogische Antwort auf Globalisierung und versucht, Wissen und Sensibilität für weltweite Zusammenhänge – im Sinne zukunftsfähiger Entwicklung – zu vermitteln. Globales Lernen geht dabei von der Lebenswirklichkeit der Lernenden aus. Konzeptionell ist Globales Lernen ein integratives Lernkonzept, das Fragen der Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtserziehung sowie der entwicklungspolitischen Bildung einbezieht.
In Österreich wurde 2003 von KommEnt (Gesellschaft für Kommunikation und Entwicklung), dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (bm:bwk) sowie von NGOs eine Strategiegruppe Globales Lernen eingerichtet. Im Rahmen dieser Gruppe wurde eine Bestandsaufnahme zu Globalem Lernen in Österreich für den Zeitraum 2001 bis 2003 erhoben. Diese soll Basis für eine Strategieentwicklung zur Stärkung Globalen Lernens in der österreichischen Bildungslandschaft in den nächsten Jahren sein. Die Dokumentation der Arbeit der Strategiegruppe Globales Lernen ist als Download auf den Homepages der Südwind Agentur (www.suedwind-agentur.at) und des Baobab (www.baobab.at) abrufbar.

Annette Scheunpflug geboren 1963, Dr. phil. und Grundschullehrerin. Scheunpflug ist Professorin für Allgemeine Pädgogik an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie arbeitet seit 1991 in der Redaktion der Fachzeits

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