Mexiko versinkt in einem Meer entfesselter Gewalt. Die Journalistin Jeanette Erazo Heufelder bereiste den Drogenkorridor im Norden des Landes und schrieb darüber ein Buch, das Entsetzen auslöst.
Was passiert mit einer Gesellschaft, für die Grausamkeit nichts Abschreckendes darstellt, sondern gelebte Normalität? Wenn die Grenze zwischen der Welt der Narcos, also den Drogenhändlern und ihrem Umfeld, und der „normalen“ Welt, der Welt der Mitmenschen, der Nachbarn und sogar der eigenen Familie, nicht mehr existiert, aufgehoben ist?
Culiacán, im Norden Mexikos gelegen, hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Zentrum des Drogenhandels entwickelt. Schon in den 1980er Jahren wurde das dort entstandene Kartell zum führenden Logistikunternehmen auf dem Drogenmarkt, das kolumbianisches Kokain auf dem Weg über Mexiko in die USA brachte. Nach der Auflösung der großen kolumbianischen Kartelle wuchs die Macht der mexikanischen Drogenbosse, und das Kartell von Sinaloa mit dem Zentrum in Culiacán entwickelte sich unter der Führung von Joaquín „Chapo“ Guzmán zum wichtigsten Händlerring.
Die Durchsetzung der Gesellschaft durch den Drogenhandel ist im mexikanischen Norden so gut wie total. Eine Untersuchung des Justizministeriums hat ergeben, dass in Sinaloa knapp die Hälfte der Jugendlichen in Drogengeschäfte verwickelt ist. „Wir atmen Narco-Luft. Sie verpestet den Alltag. Sie hat uns krank gemacht“, sagt Javier Valdez, Journalist bei der Zeitschrift „Radiodoce“ in Culiacán. Das Schlimmste sei, dass sich die Menschen so sehr an diesen Zustand gewöhnt haben, dass sie ihn als völlig normal empfinden.
Es sind vor allem die KünstlerInnen und JournalistInnen, die sich dem Wahnsinn der Narco-Normalität entgegenstellen. Teresa Margolles zum Beispiel, die international bekannte Künstlerin aus Culiacán, die in ihren Installationen die Verbindung zwischen Tod und Gewalt thematisiert. Im letzten Quartal 2008 lebte und arbeitete sie als „Artist in Residence“ in Krems. In einem Interview mit dem Südwind-Magazin (Nr.12/2008) erzählte sie über den Inhalt ihrer Arbeit: „Ich erforsche nicht das ‚Warum‘, sondern den Schmerz über den Verlust eines Menschen. Jeder Ermordete ist eine Tragödie, die die ganze Familie in Mitleidenschaft zieht.“
Der Bundesstaat Chihuahua ist das Zentrum, eigentlich auch die Geburtsstätte des Feminizids. Sowohl als Begriff als auch als Praxis systematischer Ermordung von Frauen durch Männer. Wobei der Staat die Verantwortung trägt, weil er ein gesellschaftliches und politisches Klima schafft, das diese Mordfälle möglich macht und sogar fördert.
Von Ciudad Juárez an der Grenze zu den USA aus verbreitete sich dieses Phänomen der Frauenmorde über den ganzen Bundesstaat. Im Jahr 2010 waren es bis zum 16. Dezember 441 Tote. Einen Tag darauf wurde Marisela Escobedo das Opfer Nr. 442. Neun Tage und neun Nächte hatte sie protestierend vor dem Regierungsgebäude in Chihuahua verbracht, bis sie dort die Kugeln ihres Mörders erwischten (siehe Reportage in SWM 3/2011).
Menschenrechtsorganisationen beklagen schon seit Jahren, dass der so genannte Drogenkrieg der Regierung auch den Aktivisten und Aktivistinnen von sozialen Bewegungen, den Menschenrechtsverteidigern und den Protestbewegungen gilt. Auf der anderen Seite hat die Bekämpfung des Drogenhandels, die Präsident Calderón Ende 2006 zum Schwerpunkt seiner Regierungstätigkeit ausrief, nicht nur über 40.000 Todesopfer gefordert, sondern auch das ganze Ausmaß der Verstrickung des Staates mit jenen mafiösen Strukturen, die eigentlich bekämpft werden sollten, aufgedeckt.
Die Millionenstadt Ciudad Juárez, früher bekannt durch Frauenmorde in Serie, ist heute einer der Brennpunkte des Drogenhandels und wird auch als solcher in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Die Mehrzahl der Toten ist heute männlichen Geschlechts, doch gleichzeitig hat die Zahl der ermordeten Frauen zugenommen. Für die Zeit von 1993 bis 2007 wurden dem Feminizid siebenhundert Opfer zugerechnet, von 2008 bis 2010 achthundert.
„Wertloser als heute war menschliches Leben noch nie in Ciudad Juárez“, ist das Resumee der Autorin nach ihrem Besuch in der gefährlichen Grenzstadt, bei dem sie selbst das Opfer eines Überfalls wurde. Heute begnügen sich die Auftragskiller bereits mit Dumpinglöhnen von umgerechnet 20 Dollar, und die Altersgrenze sinkt immer weiter.
Ein mitreißendes Beispiel politischer Testimonio-Literatur, bei dem der Schrecken leider keine Effekthascherei ist, sondern die pure Wirklichkeit darstellt. Eine Reportage aus einem zerfallenden Land, für die die in Deutschland lebende Autorin mit südamerikanischen Wurzeln ihr eigenes Leben aufs Spiel setzte.
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