Spiegelei, Spiegelei, Handtuchform. Koralleninseln, wohin man sieht. Runde und rechteckige, o- und u-förmige Sandflecken liegen wie aufgefädelt und formen das Nord-Male-Atoll. Nach dem Handtuch folgen wieder zwei Spiegeleier, diese ebenso flach wie die anderen. Die Mini-Inseln ragen keine zwei Meter aus dem Meer – und haben doch enormen Tiefgang: Hier am Äquator erhebt sich aus zweitausend Metern Tiefe des Indischen Ozeans ein gewaltiges unterseeisches Gebirge. Auf dessen Bergspitzen ruhen die 26 Atolle der Malediven. Von Abermilliarden Korallentierchen über die Jahrtausende errichtet, sind sie zu einmaligen Landschaften von Riffen und Steilwänden, Lagunen und Sandbänken gewachsen.
Das Wasserflugzeug setzt an zum Tiefflug auf eines der Eilande. Ozeanblau, lagunentürkis, strandweiß, palmengrün – und Minuten später setzt es vor Bodu Huraa auf, eine hoch aufschäumende Gischtspur nach sich ziehend. Ein Steg führt an Land. Kinder eilen herbei, „Maruha Baa!“ grüßen sie auf Divehi, „Willkommen auf den Malediven“. Dieser Staat besitzt mehr Wasser als Land: Alle 1.192 Inseln zusammengefasst ergeben gerade eine Landfläche von knapp 300 km2, also weniger als die Fläche Wiens, zudem sind nur die größten zweihundert besiedelt. Bodu Huraa gehört dazu.
Hier zeigt sich, wie eine Insel tatsächlich aussieht, bevor sie urlauber-fein hergerichtet und mit vielen Tonnen weißen Sandes überzogen wird: nämlich erdig. Und der Palmenwald wird auch nicht gekehrt. Ins Dorf führen Wege aus Korallensand. Die niedrigen Häuschen sind weiß gekalkt. Eine Frau kehrt ihren Mini-Vorgarten mit Palmzweigen. Ein Junge kommt mit einem Huhn unterm Arm und erklärt stolz, das „Rabbit“ sei sein Haustier. Ein Hase? Oder ist das nicht doch eher ein Huhn? Ach, immer diese besserwisserischen Erwachsenen, schneidet er eine vorwitzige Grimasse und läuft zu seinem Spielkameraden. Beide kichern, und das Huhn flattert ins Haus zurück.
Eine Gasse weiter steht eine kleine Moschee, am Hauptplatz dann die Volksschule. Es ist gerade Mittagspause, und viele Kinder in blau-weißen Schuluniformen strömen heraus. Das Durchschnittsalter auf den Malediven liegt bei 16 Jahren.
Eine Gruppe Frauen sitzt zusammen, sie zerstampfen Maiskörner in einem ausgehöhlten Stein. Ich frage nach Shaira. Die Malediverin im leuchtend gelben Sari kommt rasch aus ihrem Laden. Shaira verkauft Tee. Zimt-, Mango-, Ananas- und sogar Kokosnuss-Tee. „Ki Kihine?“ Es geht ihr gut, sie hat nun einen eigenen Laden und zwei Kinder, und der Mann hat eine gute Arbeitsstelle in einem Hotel. Die Mehrheit der arbeitsfähigen Bevölkerung ist im Tourismus tätig. Gemeinsam kommen sie auf ein Monatseinkommen von umgerechnet 600 Euro. Die kleine Frau mit dem dicken Haarzopf, der fast bis zur Hüfte reicht, will uns vom SHE-Projekt erzählen.
SHE steht für die Society for Health Education, die führende Nichtregierungs-Organisation (NGO) der Malediven mit Schwerpunkt Frauen- und Familienarbeit sowie Familienplanung. Die NGO wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Commonwealth Foundation und der Regierung gefördert. SHE leistet für die maldivische Bevölkerung essenzielle Hilfe. Vor allem nach dem Tsunami habe SHE rasch und professionell reagiert, berichtet Shaira. Bodu Huraa liegt Indien und Sri Lanka zugewandt und damit auf der von der Flutwelle schwer in Mitleidenschaft gezogenen Atoll-Ostseite. Von SHE wurden sofort Nahrungsmittel, Baumaterialien, Werkzeuge sowie das von der britischen Hilfsorganisation Oxfam bereitgestellte neue Fischfang-Gerät in die betroffenen Regionen geliefert. Flüchtlings-Camps wurden aufgebaut und ausgestattet, um die Menschen von überfluteten Inseln aufzunehmen. Und nachdem es im Land kaum PsychotherapeutInnen gibt, flog die NGO auch weitere Ärzte in die Atolle, in denen nach dem Tsunami vor allem Frauen und Kinder bei der Bewältigung schwerer psychisch-sozialer Traumata unterstützt wurden.
Die Gesellschaft hat ihren Sitz auf der Hauptstadtinsel Malé, die nur eine halbe Bootsstunde entfernt liegt. Das Dhoni, das traditionelle Fischerboot der Malediven, tuckert vorbei an der vorgelagerten Flughafeninsel Hulule, auf der die einzige Landepiste knapp vor dem Meer endet und die deshalb bereits seit ein paar Jahren ausgebaut wird. Jede Erweiterung bedeutet, sie dem Meer abzuringen. Im Fall Hulule wird die riesige Lagune aufgeschüttet. KritikerInnen warnen vor Negativfolgen des Mega-Projekts: Niemand könne bei den riesigen Sandbewegungen die Folgen für Umwelt, Meer und Strömung vorhersagen.
Dhoni-Bootsführer Ibrahim Zuhury sieht hingegen die Vorteile: „Lagerhallen und Bürogebäude werden dann von Malé nach Hulule übersiedelt, dann haben wir dort mehr Platz!“
Raumnot ist eines der größten Probleme der Hauptstadt. An die 85.000 Menschen müssen hier unterkommen. Auch Ibrahim lebt mit seiner Frau und drei Kindern in einem Raum. „Halb Malé zieht dann um, wenn das Projekt fertig ist, und wir können endlich einen Park für die Kinder anlegen“, freut er sich und sieht nach vorn, wo die Kuppel der Hauptstadt-Moschee im Sonnenlicht golden glitzert.
Am Hafen werden Dhonis mit Obst, Gemüse und Fisch entladen und die Waren gleich weggeschafft – auf Karren jeglicher Art, Mopeds, ja, sogar auf Fahrrädern. In Malé herrscht rege Geschäftigkeit. Hier gibt es richtige Straßen, Läden und Cafés, sämtliche Ämter, den Regierungssitz und einen Sultanspalast.
Die überlieferte Geschichte der Malediven reicht zurück ins 12. Jahrhundert, als arabische Kaufleute hier ein Sultanat errichteten und für die aus Indien und Sri Lanka stammende Urbevölkerung den Islam einführten. Dann kamen die Portugiesen, dann die Holländer, die das Sultanat in ein Protektorat umwandelten, gefolgt von den Franzosen und schließlich den Engländern, die die Malediven erst endgültig verließen, als 1976 ihr 30-jähriges Mandat über ihre Militärbasen ablief – also lange, nachdem die Unabhängigkeit erklärt (1965) und das Land zur Republik ausgerufen wurde (1968).
In der heutigen Präsidialrepublik hat Präsident und Regierungschef Maumoon Abdul Gayoom uneingeschränkte Macht über die Exekutive. Der mit bald 28 Jahren am längsten regierende Staatschef Asiens wird von der Madschlis, dem Einkammer-Parlament, für jeweils fünf Jahre gewählt und durch eine Volksabstimmung bestätigt. Der Islam ist und bleibt Staatsreligion, jedoch bewegt sich derzeit viel im Inselstaat. Demonstrationen, Ausnahmezustand, Forderungen der Opposition nach freien Wahlen – solche Ereignisse brachten 2004 die Malediven in die internationalen politischen Nachrichten. Gayoom versprach Reformen im Rechtssystem und mehr Kompetenzen für das Parlament.
Im Juni 2005 stimmten alle 50 Abgeordneten der Madschlis für ein Mehrparteiensystem auf den Malediven. Zudem ersuchte Gayoom die Ex-Außenministerin der USA, Madeleine Albright, und das National Democratic Institute in Washington, Reformpläne für Legislative und Verwaltung zu entwerfen.
Kuluni Vehi, was auf Divehi soviel bedeutet wie „freundliches Haus“ – das ist die Adresse der gesuchten NGO. Das siebenstöckige Bürohaus mit dem dunkel getönten Fensterglas ist Sitz der Society for Health Education. Hier befindet sich auch das Büro des Direktors Mohamed Zuhair. Stolz stellt er seine NGO vor: SHE wurde bereits 1988 ins Leben gerufen. Zentrale Aufgabe ist die Verbesserung der Lebensqualität für maldivische Familien – durch Bewusstseinsbildung, Hilfe zur Selbsthilfe in den Dörfern und durch konkrete Unterstützung. Mohamed Zuhair: „Ob Einzelperson, Familie oder Gemeinschaft – jeder, gleich welcher Herkunft, hat das Recht auf eine gute Gesundheit und zugleich die Verantwortung für eine gesunde Lebensweise“. Es gehe um alle Aspekte des „Familiy Well-Being“, die Schaffung nachhaltiger sozialer Gesundheit und die Stärkung der Gemeinden nach dem Graswurzelprinzip.
Die NGO arbeitet in vier Bereichen: Unter dem Titel „Gesundheitserziehung“ werden regelmäßig eigens produzierte Programme über das nationale Fernsehen und Radio ausgestrahlt, das Monatsmagazin Kulunu (engl. „Care“) herausgegeben, Projekte für StudentInnen durchgeführt und Gesundheits-Workshops als mobile „Health Trips“ in allen Atollen organisiert.
„Wichtig ist die Familienplanung“, so Zuhair. „In unserem Planungszentrum im Haus stehen Gynäkologen für Information, Betreuung und ärztliche Untersuchungen zur Verfügung.“ Diese Dienste werden auch von den mobilen SHE-Teams in den Atollen angeboten, inklusive der Verteilung von Verhütungsmitteln. Auch im nächsten wichtigen Bereich hat SHE eine Pionierrolle in der islamischen Republik eingenommen: Einzel- und Gruppengespräche mit ausgebildeten TherapeutInnen und eine Telefon-Help-Line zählen dazu. Für drei- bis zehnjährige Kinder wurde ein Erholungszentrum eingerichtet, wo mit altersgerechten Techniken mit traumatisierten Kindern gearbeitet wird.
Thalassämia ist der vierte Bereich. Erst die NGO machte auf diese in den Malediven weit verbreitete erbliche und lebensbedrohende Bluterkrankung aufmerksam. Laut SHE-Studien sind 18 Prozent der Bevölkerung betroffen. Die NGO führt mit ihren mobilen Gesundheits-Teams regelmäßig gratis Untersuchungen auf allen Inseln durch. Dieser Service ist teuer: Bei einem Test für 10 US-Dollar und 15.000 Tests jährlich muss die NGO allein dafür 3.000 Dollar pro Woche aufwenden. Damit ist es nicht getan. Um zu überleben, braucht ein Kind monatliche Bluttransfusionen und eine zeitaufwendige Behandlung mit dem Medikament Desferrioxamine. Die Kosten betragen 6.000 Dollar pro Kind und Jahr. „Nur eine Knochenmark-Transplantation kann dauerhaft helfen“, sagt Zuhair, „aber bei Kosten von an die 50.000 Dollar ist das für Familien hier in einem Entwicklungsland einfach nicht machbar“.
Die Gelder für SHE und den genau definierten Fünfjahresplan werden durch UN-Institutionen und internationale Hilfsorganisationen, durch Fundraising und Spenden, u.a. bei einem jährlichen Kinderfestival, aufgebracht. Neue Agenden kommen noch hinzu: Erst kürzlich wurde auch die Gender-Arbeit als Bereich aufgenommen. Frauen im abgelegenen Laamu-Atoll sollen hier mit Unterstützung des UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) und der EU angesprochen werden. SHE hat auf den Malediven mehr als nur eine wichtige Funktion.
AutorenInfo:
Carolyn Martin leitet das Redaktionsbüro Sea Life Media, dessen Team sich auf Reiseberichte aus tropischen Destinationen spezialisiert hat. Die Malediven bereist sie seit 15 Jahren und gemeinsam mit Fotograf Martin Schmutzer zumindest einmal jährlich. Von 1992 bis 1997 war sie Redakteurin des Südwind-Magazins.