„Argentina tiene hoy la mejor ley de migración del mundo“ (Argentinien hat heute das beste Migrationsgesetz der Welt), sagt Natividad Obeso bei einem Treffen im Herbst 2009 in Buenos Aires. Wie kommt die aktuelle Vorsitzende der Migrantinnen-Organisation AMUMRA (Asociación Civil de Derechos Humanos Mujeres Unidas Migrantes y Refugiadas en la Argentina), die seit Jahren für die Rechte von MigrantInnen und Flüchtlingen in Argentinien, gegen Diskriminierung, Gewalt und Ausbeutung kämpft, zu dieser unerwarteten Aussage?
Als wir mit der Frauenrechtlerin sprechen, hat sie gerade erfahren, dass die Anklage als Terroristin gegen sie, die sie vor 16 Jahren zwang, ihr Dorf im nördlichen Bergland Perus zu verlassen und in Argentinien um Asyl zu ersuchen, fallen gelassen wurde. Die heute 50-jährige alleinerziehende Mutter von vier jugendlichen Kindern genießt in Argentinien Asylstatus und ist dort gemeinsam mit anderen Frauen Teil der Bewegungen für die Rechte von MigrantInnen.
Ende der 1990er Jahre begannen Frauen, die vor allem aus den Nachbarländern nach Argentinien eingewandert waren, sich gegen die widrigen Umstände in der Migration zu organisieren. Seit 2003 gibt es den Verein AMUMRA, in dem Migrantinnen aus Peru, Chile, Bolivien, der Ukraine, Paraguay, Ecuador, Brasilien und anderen Ländern zusammengeschlossen sind. „Es war überlebensnotwendig, uns zu organisieren, loszugehen und die Straße zu gewinnen, zu erreichen, dass die Aufmerksamkeit sich auf uns richtete“, sagt Natividad Obeso, denn obwohl heute die Gesetze auf ihrer Seite stehen, sehen sich die MigrantInnen aus dem „Süden“ in Argentinien mit Ausbeutung, Diskriminierung und Gewalt konfrontiert. Für Einwandernde aus den lateinamerikanischen Nachbarländern war die Situation nicht immer „la mejor del mundo“, sondern der Rassismus gegenüber „nicht-europäischen“ MigrantInnen war in Argentinien gesetzlich und institutionell verankert.
Argentinien ist seit seiner Gründung als Nation nach Erlangung der Unabhängigkeit von Spanien zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Migrationsland. Das nationale Projekt sah vor, das Land mit EuropäerInnen zu besiedeln, von denen man sich – gemäß der von Kolonialismus und Liberalismus geprägten Ideologie der Zeit – eine „zivilisierende“ Wirkung und produktive Arbeitskraft versprach. Schon früh wanderten auch Personen aus den lateinamerikanischen Nachbarländern nach Argentinien, doch wurde ihre Migration zunächst nicht reguliert geschweige denn ihre Einreise und Integration wie die der EuropäerInnen gefördert. Die noch bis weit ins 20. Jahrhundert geltenden Migrationsgesetze definierten als willkommene Zuwanderer und Migrantinnen Menschen, die mit Schiffen aus Übersee in der 3. Klasse einreisten. Besonders ab den 1950er Jahren erhöhte sich die Zahl derjenigen, die die Landesgrenzen überquerten, um als SaisonarbeiterInnen oder auch dauerhaft im Land zu arbeiten und zu leben.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden immer wieder „Amnestien“ erlassen, die es den durch die Gesetze und die Grenzpolitik illegalisierten MigrantInnen erlaubten, ihren Status zu legalisieren. Einen Großteil der Migrationen aus dem „Süden“ versuchte der Staat durch bilaterale Verträge mit den jeweiligen Herkunftsländern zu kontrollieren – seien es Menschen aus dem „Nahen Osten“ wie Syrien oder dem Libanon, aus Korea, Taiwan oder eben aus den lateinamerikanischen Ländern Paraguay, Bolivien, Peru, Chile und Uruguay. Seit den Diktaturen der 1960er und 1970er bis Anfang der 1980er Jahre und auch in der Zeit der wirtschaftlichen und politischen Krise um 2000 wanderten jedoch auch zehntausende Menschen aus Argentinien nach Europa und die USA oder in die Nachbar- oder andere lateinamerikanische Länder aus oder zurück.
In den 1990er Jahren war die Repression und Diskriminierung gegenüber MigrantInnen aus den Nachbarländern allgegenwärtig. In der argentinischen Presse gab es rassistische Hetzkampagnen gegen die lateinamerikanischen MigrantInnen, für die Argentinien als Migrationsziel zu der Zeit ökonomisch attraktiv war: Aufgrund der ständig ansteigenden Inflationsrate wurde 1991 der argentinische Peso an den Dollar gebunden, wodurch sein Wert im Verhältnis zu den Nachbarwährungen stieg. Im Baugewerbe, Handwerk, der Textilindustrie und im Haushalt wurden günstige Arbeitskräfte gesucht. Zunehmend etablierte sich eine Arbeitsteilung zwischen Einheimischen und MigrantInnen, die die Jobs übernahmen, in denen die ArgentinierInnen nicht (mehr) arbeiten mochten. Auch die selbstständigen transnationalen Ökonomien – Werkstätten oder Gemüseläden, die in Argentinien etwa von Menschen aus Bolivien, Paraguay oder Korea betrieben wurden, liefen in den 1990er Jahren gut, da der in Argentinien in Dollar erzielte Profit im Herkunftsland noch mehr wert war.
In dem noch aus der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 stammenden Migrationsgesetz wurden – vor allem nicht-europäische – MigrantInnen unter dem Gesichtspunkt der inneren und nationalen Sicherheit betrachtet. Wenn auch in den 1990er Jahren verschiedene Dekrete je nach ökonomischer Konjunktur und Bedarf die Bedingungen und Anforderungen der legalen Einwanderung aus Südamerika regulierten, so blieb der Tenor des Gesetzes erhalten, in dem Einwandernde als Fremde und potenzielle Feinde illegalisiert und kriminalisiert wurden.
Erst Anfang 2004 wurde das Gesetz von 1981, das nach dem früheren Diktator „ley Videla“ benannt worden war, durch ein mehr im Zeichen der Integration stehendes ersetzt. Zu dieser Änderung hatten verschiedene Faktoren geführt. Die Krise und der Staatsbankrott zu Anfang der Dekade hatte Argentinien gehörig erschüttert und das Selbstverständnis, eigentlich nicht ein Teil Lateinamerikas, sondern vielmehr das Europa des Südens zu sein, in Frage gestellt. Im Mai 2003 wurde der Linksperonist Nestor Kirchner, der sich u.a. den Kampf für die Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben hatte, zum Präsidenten gewählt. Ende desselben Jahres stimmte das Parlament dem neuen Migrationsgesetz zu, das Legalisierungsmöglichkeiten und soziale Rechte für Eingewanderte anbietet und auch die Bedingungen einer legalen Einreise erleichtert. In der Debatte wurde das Anliegen formuliert, Argentinien solle wieder zum Anziehungspunkt für Zuwandernde – diesmal vor allem aus den Nachbarländern – werden.
Die veränderte Haltung gegenüber Personen aus Lateinamerika steht auch im Rahmen der Entwicklungen im Mercosur. Hier wurden zu Beginn der 2000er Jahre neue Bestimmungen bezüglich der Grenzübertritte und des Aufenthalts verabschiedet. Nach und nach sollten die Personen aus dem Mercosur in allen zugehörigen Ländern die gleichen Rechte genießen, ähnlich wie die EU-BürgerInnen in der Europäischen Union.
Entscheidend haben aber die Aktivitäten und jahrelangen Kämpfe von Organisationen wie AMUMRA zu dem Wandel beigetragen. Neben ihrem alltäglichen Kampf gegen Diskriminierung, der von der Beratung und Politisierung von Migrantinnen hin zu Öffentlichkeitsarbeit für die Belange der Einwandernden auf nationaler und internationaler Ebene reicht, brachte sich die Organisation direkt in die Debatten um das neue Gesetz ein.
Natividad Obeso erinnert sich: „Wir haben uns den Gesetzesvorschlag des sozialistischen Abgeordneten Rubén Giustiniani zu eigen gemacht, arbeiteten viel an diesem Projekt mit und machten Lobbyarbeit für dessen Umsetzung. Zunächst waren wir nur Peruanerinnen, aber dann merkten wir, dass wir alle Migrantinnen zusammenrufen mussten, um etwas zu erreichen. Seitdem spielt Nationalität, die ja nur eine spaltende Funktion hat, innerhalb unserer Gruppe keine Rolle mehr.“
Neben dem mit der Hilfe auch anderer MigrantInnen- und Menschenrechtsorganisationen erzielten Erfolg des neuen Gesetzes erreichte AMUMRA auch die Ratifizierung der Konvention für die Rechte von WanderarbeiterInnen und ihrer Familien. Außerdem kämpfte die Organisation dafür, dass Argentinien das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau der UNO anerkannte und ein Gesetz gegen Menschenhandel und das Gesetz gegen sexuelle Gewalt verabschiedete.
Frau Obeso beschreibt ihren kontinuierlichen Kampf als einen kollektiven Prozess. „Wir wissen, dass die Gewalt, die wir als Frauen erleben, mit uns migriert und nichts mit der Herkunft zu tun hat. Deswegen haben wir Aktionen entwickelt, die uns Stärke verleihen. Durch unsere Kämpfe sind wir nicht mehr Opfer, sondern die Akteurinnen unseres eigenen Lebens, egal welcher Nationalität wir angehören.“
Birgit zur Nieden promovierte am Lateinamerika Institut der FU Berlin zu Genealogien spanisch-argentinischer Migration und beschäftigt sich wissenschaftlich und in politischen Initiativen mit Migration, Antirassismus und Feminismus.
Bárbara Miranda studierte Architektur in Chile und ist heute in Berlin in verschiedenen Initiativen organisiert, die sich aus feministischer Perspektive mit Migration und Antirassismus beschäftigen.