Das EU-Jahr der Chancengleichheit neigt sich dem Ende zu. Ein Plädoyer dafür, über das Thema auch weiterhin nachzudenken.
Zugegeben, man könnte so ein „EU-Jahr“ wegen Belanglosigkeit einfach ignorieren. So wie das Jahr des Delfins oder das Heliophysikalische Jahr, die ebenfalls gerade zur Neige gehen. Bestenfalls gibt es für so ein „Jahresmotto“ wie für die „EU-Jahre“ einen eigenen Fördertopf, einige (gefällige) Veranstaltungen und eine leicht erhöhte Medienpräsenz der entsprechenden Themen.
Der Global Player EU stellt den scheinbar harmlosen Slogan „Lasst uns Chancengleichheit zur Realität machen“ in den Raum und dafür 13,6 Mio. Euro zur Verfügung – etwas mehr als ein Zehntel der Kosten für die gemeinsame Agrarpolitik pro Tag. Eine lächerliche Summe für ein allerdings absolut nicht lächerliches Thema.
Die EU denkt bei „Chancengleichheit“ an Nichtdiskriminierung, Teilhabe unterrepräsentierter Gruppen, an die Vorteile von Vielfalt und gute Beziehungen zwischen allen gesellschaftlichen Gruppierungen. Viele Jahre stand die Kategorie Geschlecht im Vordergrund bei den Bemühungen gegen Diskriminierung, jetzt auch „Rasse“, ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung. Antidiskriminierungsbestimmungen, Aufklärung und Sensibilisierung sollen hier abhelfen. Das klingt human und fortschrittlich. Der Umgang mit Lebenschancen berührt den Kern des gesellschaftlichen Zusammenlebens, ist die Essenz einer Demokratie.
Bei genauerem Hinsehen hat die EU-Vorstellung von der Chancengleichheit jedoch einen gravierenden Schönheitsfehler. Wie kann man von Chancen und Gleichheit sprechen und „Klasse“ nicht erwähnen? Armut ist wohl immer noch die größte Ursache für Chancenungleichheit. Aber das passt wohl nicht ins Konzept einer „Chancengleichheit“, die als untrennbar verbunden mit dem Wettbewerbsprinzip gedacht wird: die gesellschaftliche Entwicklung als eine Art Skirennen, an dem alle unter vergleichbaren Bedingungen teilnehmen können sollen. Und was ist mit denen, die es aus den vielfältigsten Gründen erst gar nicht an den Start geschafft haben? Und wollen überhaupt alle Skifahren?
Es ist wohl kein Zufall, dass gerade in Österreich lebende AfrikanerInnen im EU-Jahr der Chancengleichheit den Begriff der „Chancengerechtigkeit“ an die Öffentlichkeit bringen. Diese sei dann zu realisieren, wenn seitens der Politik Bildung, Karriere und Aufstiegschancen von Individuen entsprechend ihrer unterschiedlichen sozialen Herkunft gefördert werden. Gefordert wird „Affirmative Action“. Eine derartige „positive Diskriminierung“ von Menschen afrikanischer Herkunft ist mit dem Wettbewerbsprinzip der EU jedoch sicher nicht vereinbar.
Es steckt also viel mehr hinter dem Thema „Chancengleichheit“, und es bietet mehr sozialen Zündstoff als etwa die Frage der „Mobilität der Erwerbstätigen“ (EU-Jahr 2006). Und gerade im demnächst anbrechenden EU-Jahr des „Interkulturellen Dialoges“ lohnt es sich besonders, weiterhin über die Frage der Chancengleichheit nachzudenken. Einen breiten Dialog darüber zu führen, was Chancengleichheit mit Gerechtigkeit zu tun hat und wie sie wirklich herzustellen ist.