Samstag Mittag, Shanghai 2004. Ich treffe Wang Pei beim Sichuanesen, in demselben Restaurant in Hongqiao, in dem ich sie vor mehr als acht Jahren, am ersten Abend eines mehrjährigen Arbeitsaufhaltes in Shanghai, kennen gelernt habe. Damals wie heute unser Lieblings-Sichuanese. Der Manager des Restaurants empfiehlt eine neue Erfindung der Küche, die wir natürlich ausprobieren: „Zwischen heißen Kieselsteinen gebratenes Rindfleisch“. Wang Pei ist die beste Quelle für neue Restauranttipps. Sie stammt aus der Provinz Sichuan und weiß immer, wo es den schärfsten Feuertopf und die authentischste Sichuan- oder Hunan-Küche gibt. Mit ihren Vorschlägen bereichert sie immer wieder eine unserer liebsten Freizeitbeschäftigungen – Restaurantbesuche.
Es mangelt nicht an Möglichkeiten. Dem Shanghaier Wunsch nach Neuem wird mit immer vielfältigeren Angeboten Rechnung getragen – Uigurisch, Kantonesisch, Japanisch, Vietnamesisch, Thai, Italienisch sowieso, Peking-Ente, haarige Süßwasserkrabben, Huhn-im-Chilliberg usw. Selbst in frühen Morgenstunden, nach einem Bar-Besuch, findet man irgendwo noch ein 24-Stunden-Restaurant oder eine Rund-um-die-Uhr-Nudelbude.
Vor fünfzehn Jahren war das undenkbar. In den späten 1980er Jahren gingen in China mit Sonnenuntergang die Lichter aus, und nicht einmal Städte wie Shanghai hatten ein wirkliches Nachtleben zu bieten. Restaurantbesuche zählten zum seltenen Luxus, den man sich nur zu feierlichen Anlässen im Familienkreis leistete, ansonsten traf man sich zu Hause und kochte selber, in der Nacht blieben die Straßen leer. In den zwei oder drei Bars der Stadt trafen sich meistens AusländerInnen, und wenn man 1990 in Chengdu, der Provinzhauptstadt von Sichuan, zu später Stunde mit einer Person des anderen Geschlechts auf der Straße angetroffen wurde und nicht nachweisen konnte, miteinander verheiratet zu sein, musste man mit einer Geldstrafe wegen Prostitution rechnen.
Heute kümmert es niemanden, wenn junge Shanghaierinnen Abend für Abend ihr Glück in Bars suchen und sich willige Ausländer angeln. Ganze Straßen haben sich dem Nachtleben verschrieben, und das Stadtmagazin „That’s Shanghai“ verrät jeden Monat den neuesten Place-to-be-seen.
Eigentlich wollte Wang Pei nach unserem Mittagessen zu einer Vorlesung, um in westlicher Psychologie Antworten auf die vielen Fragen des Konsum-Kapitalismus zu finden, der über China hereingebrochen ist. Außerdem glaubt sie, dass China bald eine Menge von PsychologInnen und PsychiaterInnen brauchen wird. Sie will für die zukünftige Marktlücke gerüstet sein, doch mit ein bisschen Überredungskunst kann ich sie dafür gewinnen, ihre Vorlesung zu schwänzen und mit mir auf einen Kaffee zu gehen.
Wir müssen nicht lange suchen, denn die amerikanische Kaffeehauskette Starbucks ist seit neuestem an jeder Ecke Shanghais zu finden. Obwohl ein Kaffee soviel kostet wie zwei Portionen Nudeln, ist das Lokal immer voll.
Ich erinnere mich noch an Zeiten, in denen wir ganze Nachmittage bei einem Ein-Yuan-Tee (15 Cent) gesessen, Sonnenblumenkerne geknabbert und Mahjong gespielt haben. Heute spielt man Mahjong nur mehr um Geld, sonst fehlt der Reiz. Einstiger kommunistischer Verschlafenheit ist ein hektisches wirtschaftliches Treiben gewichen, und viele ChinesInnen haben Geldverdienen und Karriere in den Mittelpunkt ihres Lebens gerückt.
Eine eigene Wohnung, vielleicht ein Auto, gehören zu den großen, aber nicht unmöglichen Träumen, Computer für die Kinder, Digitalkameras und neue Mobiltelefone sind für die jungen StädterInnen ein Muss, und nicht selten wird Erholung wirtschaftlichem Vorankommen geopfert und die Freizeit im Kaufhaus verbracht. Shopping gehört zu den beliebtesten Wochenend-Aktivitäten.
Die Geschäfte sind überfüllt und haben selbstverständlich samstags und sonntags bis in die späten Abendstunden geöffnet. Die Huaihai-Road, die größte Einkaufsstraße Shanghais, gleicht einem überfüllten Fußballstadion. Die Taxis kommen nur im Schritttempo voran. Alle westlichen Marken werden angeboten. Anstatt ins Kino zu gehen, ersteht man auf dem Schwarzmarkt Raubkopien von Filmen, die in Amerika gerade gezeigt werden.
Im Gegensatz dazu ist man im China der frühen 1990er Jahre auf seinem „Flying Pigeon“ oder seinem „Phenix“ – beide Fahrrad-Marken waren nur in Schwarz erhältlich – durch eine schaufensterlose Stadt geradelt, um wie schon so oft festzustellen, dass es in allen Geschäften nur das Gleiche zu kaufen gab. Hatte man sich dann doch entschieden, eine weitere Thermoskanne mit Blümchen oder eine Emailschüssel mit aufgemalten Fischen zu erstehen, musste man erst eine widerwillige Verkäuferin in Staatsmontur energisch anschreien, damit sie einem mehrere Objekte auf den Tresen legte, aus denen man dann das am wenigsten schadhafte auswählen konnte. Die Bezahlung war ein Spießrutenlauf mit dreifachem Durchschlagpapier und ebenso vielen unfreundlichen Stationen. Umso aufregender war es dann, als Mitte 1991 plötzlich bunte Mountainbikes und Nike-Sportschuhe auf den Markt kamen, die einem bereitwillig vorgeführt wurden.
Die wirtschaftliche Öffnung Chinas hat aber nicht nur ein erweitertes Kaufangebot mit sich gebracht, sondern auch eine größere Mobilität der Menschen. Als Studentin in China wurde ich 1990 oft für meine Reisen im Land bewundert. Die meisten ChinesInnen waren bis Mitte der neunziger Jahre nur einmal im Jahr auf Achse. Sie fuhren nach Hause, zum größten Familienfest des Landes: Chinesisch Neujahr. Einheimische Reisende konnten damals Zugtickets nur mit der schriftlichen Genehmigung ihrer Arbeitsstelle kaufen.
Heute gibt es Reisebüros, die jederzeit Wochenendausflüge in die nähere Umgebung, Badeurlaube auf Chinas „Inselparadies“ Hainan und Flüge in jede beliebige Stadt des Landes verkaufen. Wenn man jetzt um Chinesisch Neujahr einen Flug nach Thailand, Malaysia, Indonesien oder Australien buchen will, muss man früh dran sein, denn immer mehr chinesische Städter fahren mit ihrer Familie lieber an den Strand als zu Verwandten. Auslandsreisen sind nur mehr eine Frage des Geldes und der ausländischen Visabestimmungen. Sie scheitern nicht – wie früher oft – an der Schwierigkeit, einen Reisepass zu bekommen. Immer mehr ChinesInnen haben schon einmal eine Rundreise durch Europa gemacht und schwärmen von Paris oder Rom.
Die Buchläden sind seit neuestem voll von Individual-Reiseführern – „Mit dem Rucksack durch die letzten authentischen Dörfer Chinas“, „Wandern in Tibet“, „Ausflüge in Minoritäten-Gebiete“, – aber man muss in China schon ziemlich weit fahren, wenn man allein sein oder das Gefühl haben will, ein Stück unberührtes China zu entdecken.
Seit Deng Xiaoping Mitte der neunziger Jahre erklärt hat, dass reich sein keine politische Schande mehr ist, scheint es, als hätte sich ganz China auf diese neue Devise gestürzt. Doch der Schein trügt. Nur wenigen ist es gelungen, wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen. Das neue Freizeitverhalten ist gewiss immer mehr ChinesInnen möglich, vor allem jenen in großen prosperierenden Städten. Vielen Menschen aber fehlt die Vorraussetzung, um an diesem neuen chinesischen Traum mitzubauen. Oder sie bauen ihn für andere: Millionen von Wanderarbeitern kommen in die Städte, um Hochhäuser und Straßen zu errichten. Nicht selten, am Ende eines langen Arbeitsjahres, werden sie um ihr Jahreseinkommen geprellt. Von kommunistischer Solidarität ist in China heute wenig zu spüren.
Bei einem Latte Medium träumt Wang Pei davon, genug Geld zu sparen, um sich ein Stück Land in Australien zu kaufen und dem Trubel und Lärm für immer zu entkommen. Meinen Einwand, dass sie, nach all den Jahren in Shanghai, die Ruhe und Einsamkeit am Land doch nie aushalten würde, tut sie überzeugt ab. Anfang fünfzig will sie auf ihrer Farm sitzen und über den Sinn des Lebens nachdenken. Bis dahin wird es allerdings noch dauern, bis ihre Tochter aus der Schule ist und sie, als allein erziehende Mutter, auch für ihre Eltern und ihren jüngeren Bruder ausgesorgt hat.