Die Welt hat diese Wahl mit Erstaunen beobachtet. Doch es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir sie überraschen“, rief Michelle Bachelet mit strahlendem Lächeln am 15. Jänner 2006 in ihrer ersten Rede als gewählte Präsidentin Chiles. Auf den Straßen in Santiago de Chile, auf den Plätzen und vor dem Regierungspalast Moneda hupten derweil die Autos, schwenkten die Leute Fahnen und feierten eine Wahl, die Geschichte macht im südamerikanischen Land. Nie zuvor hat in dem Andenstaat eine Frau regiert.
Zwei Monate später, am 11. März, übernahm sie das Amt von ihrem Vorgänger, dem Sozialisten Ricardo Lagos. Mehr als 100 Delegationen aus aller Welt waren bei der Vereidigung anwesend. „Ich sage, was ich denke und ich tue, was ich sage. Darauf mein Frauenwort“, erklärte sie bei der Zeremonie, während aus dem Publikum immer wieder Rufe kamen: „Michelle, wir sind mit Dir“.
Noch vor einem Jahr hätte niemand zu träumen gewagt, dass jemand mit der Biographie von Michelle Bachelet den Präsidentenstuhl in der Moneda, dem Sitz des Staatschefs, besetzen könnte. Zu stark waren noch immer die Schatten der Diktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) und die Tabus, welche diese in Chile etablierte. Nun aber scheint ein Bruch gekommen zu sein, der an den Wahlurnen herbeigeführt wurde.
„Michelle Bachelets Leben ist fast so etwas wie eine Synthese der chilenischen Geschichte, angefangen bei der Volksregierung der Unidad Popular unter Salvador Allende bis zum heutigen Tage. Sie ist die Tochter eines Generals, der von den putschenden Militärs gefoltert wurde, bis er im Gefängnis starb. Auch sie selbst wurde gefangen genommen und gefoltert. Wie Hunderttausende Chilenen lebte sie im Exil und wie eben so viele ihrer Mitbürger kam sie, sobald es die Umstände erlaubten, in das Land zurück und kämpfte für die Demokratie. Und sie ist eine Frau! Sie ist die ganz konkrete Hoffnung, dass sich nun eine zärtlichere Nuance durchsetzt, die Chile so nötig hat“, schrieb der chilenische Schriftsteller Antonio Skármeta über Bachelet in der spanischen Zeitung El País. Mittlerweile ist von einer ethischen Wende die Rede. Von einer sanften, weiblichen Revolution, wie das Land sie dringend braucht.
Die Kinderärztin war als Kandidatin der Mitte-Links-Regierung der Concertación, einer Koalition aus Christdemokraten, Sozialisten und Sozialdemokraten, angetreten. Sie galt von Anfang an als Favoritin. Von der ehemaligen Verteidigungsministerin glaubten die WählerInnen, sie könne am besten die Probleme der Arbeitslosigkeit, im Gesundheits- und Bildungssektor und bei der Bekämpfung von Armut angehen. Doch was monatelang als sicher galt, entschied sich erst in einer Stichwahl. Mit 53,5% der Stimmen gewann Michelle Bachelet gegen den Unternehmer Sebastián Piñera von der rechten Nationalen Erneuerung (RN). „Danke, Chile“, waren die schlichten Worte, mit denen die 54-jährige Siegerin auf das historische Ereignis, das Vertrauen und die Erwartungen in sie reagierte.
Michelle Bachelets Stil unterscheidet sich stark von der väterlich-autokratischen Haltung ihres Vorgängers Ricardo Lagos. Sie sucht die direkte Nähe zur Bevölkerung, sucht deren Beteiligung ohne die Zwischenschaltung etablierter Parteien und Politikkonzepte.
Neue Gesichter und viele Frauen: Nichts spiegelt diese neue Herangehensweise besser wider als die Regierung, mit der Bachelet die Herausforderungen der nächsten vier Jahre angehen wird. Mit neuen Gesichtern und ebenso vielen Frauen wie Männern werde sie regieren, hatte sie im Wahlkampf angekündigt – und gleich das erste Versprechen gehalten. Aus der zweiten Reihe der Concertación holte Bachelet die Mehrzahl ihrer MitarbeiterInnen. Neu sind ebenfalls parteiunabhängige AkademikerInnen, die sich schon alleine durch ihre Lebensweise vom politischen Establishment unterscheiden. Sie wohnen im Stadtzentrum, fahren mit der U-Bahn zur Arbeit und halten ihre Besprechungen am liebsten im Café in der Nähe ab, statt sich hinter Schreibtischen im Büro zu verschanzen. Wichtigster Vertreter dieses Blocks ist der Ökonom Andrés Velasco, enger Berater von Bachelet und heute ihr Finanzminister. Nur zwei ihrer Minister, Innenminister Andrés Zaldivar und Außenminister Alejandro Foxley, haben eine lange Politikerlaufbahn hinter sich.
Die größte Neuerung jedoch ist die streng paritätische Zusammensetzung ihres Teams. Zehn Ministerämter gehen an Frauen, zehn an Männer. Seit 1952, als die Chileninnen das Wahlrecht erhielten, bis zur Rückkehr der Demokratie 1990 gab es nur sechs Ministerinnen – gegenüber 490 Männern als Ressortchefs. Bachelet dagegen gab jetzt Männerdomänen wie die Ministerien für Verteidigung, Wirtschaft, Planung, Nationalvermögen oder Energie und Bergbau in weibliche Hände. Damit kommt, angeführt von ihr selbst, einer allein erziehenden Mutter, ein ganz anderes Politikerprofil in Chile zum Tragen, weg vom Patriarchat, weg von den festen katholischen Werten im Land – viele ihrer MitarbeiterInnen sind, genauso wie sie selbst, bekennende Agnostiker – und weg auch vom Erbe der Diktatur. Denn auch ihre Erfahrungen von Folter und Exil teilt die neue Präsidentin mit MitarbeiterInnen ihres Stabes. Aufsehen erregte auch die Ernennung des Kapitäns a.D. Raúl Vergara zum Untersekretär für Luftfahrt. Vergara saß als politischer Häftling mit Bachelets Vater Alberto Bachelet in der gleichen Zelle.
Die wichtigsten Aufgaben der neuen Regierung liegen nun in der Abschaffung politischer Folgestrukturen der Diktatur, wie das Wahlrecht, das kleine Parteien bislang ausschloss, sowie in Reformen des Renten- und Gesundheitssystems und der Bildung, um ein weiteres soziales Auseinanderdriften in Chile zu unterbinden. Bachelet wird wesentlich tiefer greifende Änderungen der noch immer gültigen Pinochetverfassung vornehmen können als ihre Vorgänger, hat die Concertación doch erstmals die Mehrheit in Senat und Abgeordnetenhaus. Die Reformen im sozialen Bereich sollen unter anderem über den hohen Kupferpreis finanziert werden, Steuererhöhungen werden ausgeschlossen. Das führte zu einem Aufatmen in der Wirtschaft, dem vielleicht einzigen Bereich, der von der Regierung Bachelet zunächst unangetastet bleiben wird.
Insgesamt wird die Amtsübernahme von Michelle Bachelet wie ein frischer Luftzug im festgefahrenen Chile empfunden. „Hier geschieht eine große kulturelle Veränderung, ein Führungs- und Elitenwechsel sowie ein Generationenwechsel, der, da habe ich keine Zweifel, auch zu einem anderen Blickwinkel führen wird“, fasst der Präsident des Abgeordnetenhauses, Antonio Leal (Partei für die Demokratie PPD), zusammen.