Mitte September fand im südmexikanischen Chiapas die erste Vollversammlung der sogenannten Otra Campaña („andere Kampagne) statt. Unter diesem Motto will die zapatistische Guerilla EZLN alle Kräfte der außerparlamentarischen mexikanischen Linken zusammenfassen und einen gemeinsamen Aktionsplan gegen Cliquenherrschaft, Korruption und Neoliberalismus entwickeln. Das Echo in Mexiko ist groß, wenn auch zwiespältig.
Nach der Eröffnungsrede von EZLN-Sprecher Marcos auf der Eröffnungsveranstaltung am Abend des 16. September hielten die gut 2.000 ZuhörerInnen einen Moment lang die Luft an, spürbar ergriffen, bevor der Applaus losbrach.
In dem grobgezimmerten, wellblechgedeckten Holzfestsaal im Caracol La Garrucha, einem der fünf zapatistischen Regionalzentren, war an diesem Abend so Einiges passiert: Die legendäre, aufgrund eines Krebsleidens totgeglaubte Comandanta Ramona und auch Comandanta Esther waren seit langem wieder öffentlich aufgetreten – erstere die erste Frau, die eine mexikanische Guerilla jemals öffentlich vertreten hatte, zweitere jene, die im März 2001 so kämpferisch vor dem mexikanischen Parlament gesprochen hatte, als die Öffentlichkeit dort eine Rede von Marcos zu hören erwartete.
Aber vor allem hatten die ZapatistInnen den aus ganz Mexiko angereisten GewerkschafterInnen, StadtteilaktivistInnen, AnarchistInnen, FeministInnen oder BauernvertreterInnen in einer beispielhaften Demonstration von politischer Offenheit und Bescheidenheit gerade die Verantwortung für die Zukunft Mexikos in die Hand gelegt. Nicht mehr und nicht weniger.
Die Grundsatzerklärung, auf der die neue Initiative basiert, ist die im Juni veröffentlichte „Sechste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald“ (siehe SWM 9/05 S.11), die bis zum 16. September 773 Organisationen aus Mexiko unterzeichnet hatten.
Im Verlauf des Sommers hatten die ZapatistInnen zu einer Reihe von insgesamt sechs Treffen in entlegene Dörfer des Bundesstaates Chiapas geladen, zuerst alle politischen Organisationen der mexikanischen Linken, dann die indigenen Organisationen, dann die sozialen Organisationen und so weiter. Spielregel war, dass alle Delegierten unbegrenzte Redezeit haben würden, um vor den KommandantInnen ihre Standpunkte darzulegen. Entsprechend geriet jedes der Treffen zu einem Rede-Marathon, in dessen Verlauf die Mitglieder der Comisión Sexta – so der Name der zapatistischen Abordnung für diese politische Initiative – sich oft bis in die frühen Morgenstunden hinein und in ununterbrochenen, zwanzigstündigen Sitzungen stoisch die Erklärungen und Sorgen ihrer Landsleute anhörten. Die Fähigkeit des Zuhörens ist ein Kernelement jener neuen Politik, welche die ZapatistInnen mit ihren neuen Bündnispartnern entwickeln wollen.
Explizit nicht geladen waren VertreterInnen aller politischen Parteien, die im mexikanischen Wahlregister zugelassen sind – auch nicht solcher Parteien, die sich selbst der Linken zurechnen. Die EZLN versteht ihre neue Initiative als Absage an die gesamte Parteienlandschaft Mexikos, die die Bevölkerung stets nur verraten habe – und sie hat mit Bedacht die Zeit des Wahlkampfs ausgesucht, um diesen politischen Standpunkt deutlich zu machen. Dies stieß in Mexiko insbesondere in Bezug auf eine Partei auf harsche Kritik: die linksliberale PRD (Partei der Demokratischen Revolution), deren Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López Obrador die besten Aussichten hat, im Juli 2006 zum Staatsoberhaupt gewählt zu werden.
In weiten Teilen der Bevölkerung wird er als Hoffnungsträger für den Wandel gehandelt. In den ersten Jahren nach dem zapatistischen Aufstand Anfang 1994 hatte die EZLN die PRD noch zur Zusammenarbeit aufgefordert. Doch mittlerweile zählen die ZapatistInnen auch die PRD zu ihren politischen Feinden: Nicht nur, weil der PRD angehörende paramilitärische Strukturen die zapatistische Basis mit Waffen angegriffen haben. Mehr noch, weil PRD-Abgeordnete es im Jahr 2001 im Parlament mit verhindert haben, dass die zapatistischen Forderungen nach weitgehender Autonomie für die indigenen Bevölkerungsgruppen Mexikos in Gesetzesform gegossen wurden.
„Wir wollen ehrlich sein“, erklärte EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos deshalb auf dem ersten Treffen am 6. August. „Vor zwölf Jahren haben wir gesagt, dass wir an die PRD glaubten, aber wir haben uns geirrt, als wir dachten, diese Leute würden konsequent mit dem sein, was sie sagten.“
Diese Position ihres Sprechers sollte der EZLN viel Kritik einbringen. So sprach die renommierte linke Autorin Elena Poniatowska (vgl. Interview SWM 7/05) beispielsweise von einer „Spaltung der mexikanischen Linken“ und kritisierte dies als kontraproduktiv. Selbst als Marcos klarstellte, die EZLN gebe mit dieser Vorgabe keine Wahlempfehlung ab, sondern jedeR könne, unabhängig von seiner/ihrer Teilnahme an der „anderen Kampagne“, wählen, wen er oder sie wünsche, riss die Kritik nicht ab.
Erst auf der Vollversammlung ab 16. September wurde wirklich deutlich, wohin die ZapatistInnen diesmal zielen: Sie wollen in Mexiko nicht etwa einen aufständischen Fokus, sondern gleich einen ganzen Flächenbrand entfachen. Und zwar im Verlauf der kommenden zwei Jahre und sehr systematisch, Bundesstaat für Bundesstaat.
Anfang Jänner 2006 soll zunächst Subcomandante Marcos auf Reisen gehen, diesmal aber unbewaffnet – und allein. Er soll Verbündete suchen, landesweit, in einem Rhythmus von einem bis zwei Bundesstaaten die Woche, bevor er dann exakt eine Woche vor den mexikanischen Präsidentschaftswahlen in der Hauptstadt alle zu einer zweiten Plenarsitzung lädt.
Im September 2006 dann soll sich eine ganze Delegation auf die Reise machen, bestehend aus Mitgliedern der zapatistischen Comisión Sexta, aber auch aus Delegierten anderer Organisationen, Gewerkschaften etc., die sich bis dahin der „anderen Kampagne“ angeschlossen haben. Im Zuge der Rundreisen solle die außerparlamentarische Linke einen Aktionsplan für die nächsten Jahre sowie eine neue Verfassung beschließen. Die ZapatistInnen wollen jedoch keine Inhalte vorgeben – bis auf folgende Grundbedingungen: Die Kampagne solle gewaltlos, landesweit, antikapitalistisch und links sein und neue Formen der Politik praktizieren.
Alle Kollektive und Gruppen, die die Sechste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald unterzeichnet haben, sollen künftig per E-Mail miteinander darüber kommunizieren, wie gemeinsam landesweite Streiks und Protestaktionen bestritten werden können. Als Bindeglied fungiert die Webseite der EZLN-nahen Zeitschrift Rebeldía (www.revistarebeldia.org).
Bereits in dieser Erklärung hat die EZLN deutlich gemacht, dass sie „neue Beziehungen des Respekts und der gegenseitigen Unterstützung mit internationalen Organisationen, die gegen Neoliberalismus und für die Menschheit kämpfen“, herstellen will. Während auf dem Treffen in La Garrucha ausschließlich mexikanische Gruppen und Einzelpersonen Rederecht hatten, soll noch vor Ende dieses Jahres ein so genanntes „Intergalaktisches Treffen“ stattfinden, auf dem die internationalen Aspekte und Strategien im Zusammenhang mit der neuen Offensive besprochen werden sollen.
Während Marcos in seiner Abschlussrede darauf hinwies, dass die Beteiligten ab sofort einem verschärften Klima der Bedrohung ausgesetzt seien und es notwendig sei, dass alle UnterzeichnerInnen der Sechsten Erklärung füreinander einstünden, falls eine der Organisationen offen oder verdeckt vom Repressionsapparat angegriffen werde, beeilte sich der mexikanische Innenminister Carlos Abascal, dem Subcomandante für seine Rundreise freies Geleit zuzusichern. „Jeder Bürger hat denselben Anspruch auf den Schutz des Gesetzes“, so der Innenminister, der begrüßte, dass die ZapatistInnen sich auf die Ebene der zivilen Politik begäben.
Anders als in den letzten Monaten in diversen Medien zu lesen war, ist jedoch keine Rede davon, dass die Guerilla EZLN ihre Waffen abgibt. Die zapatistische Armee bleibt zum Schutz der indigenen autonomen Gemeinden in Chiapas nach wie vor in Alarmbereitschaft, während ihr Oberbefehlshaber und Sprecher Marcos sich – unbewaffnet – auf die Suche nach weiteren Bündnispartnern begeben wird. Ein gewagtes Unterfangen in einem Land, in dem politische Morde üblich sind. 1994 wurde gar der Präsidentschaftskandidat der ehemaligen Staatspartei PRI, Luis Donaldo Colosio, mitten im Wahlkampf von den eigenen Leuten ermordet, weil er sich nicht an gewisse politische Vereinbarungen halten wollte.