Steht die Linke in Lateinamerika vor dem Aus? Nach den richtungswechselnden Wahlen in Venezuela und Argentinien sowie durch die politische Krise in Brasilien könnte dieser Eindruck entstehen. Mögliche Krisen und deren Auswirkungen erklärt Lateinamerika-Expertin Ursula Prutsch.
Welche Länder stecken Ihrer Meinung nach in der Krise?
In der Krise sind Brasilien, Argentinien, Venezuela. In Ecuador hat Rafael Correa viel von seiner ursprünglichen Politik verraten, deswegen sehe ich auch hier eine politische Krise. Der Unterschied zwischen politischem Anspruch und Programm ist sehr groß geworden.
Stehen wirtschaftliche oder politische Probleme im Vordergrund?
Es sind umfassende Krisen. Brasilien ist in einer Wirtschaftskrise, in einer politischen Krise und in einer kulturellen Krise. Begonnen hat es aber mit der Wirtschaftskrise, so wie auch in Argentinien und Venezuela, weil diese Staaten sich mit Exporten von Cash-Crops und Mineralien sehr stark auf eine extraktivistische Politik konzentriert haben. Sie erlebten einen Boom und bauten ihre Sozialpolitik auf diesen Exporten auf. Dann kam die weltweite Rezession, und besonders durch jene in China bekamen diese Staaten wirtschaftliche Probleme. Daraus erwuchsen politische Probleme, wobei man aber auch regionale Unterschiede machen muss.
Wie unterscheiden sich die Probleme in diesen Ländern?
Durch den Aufstieg von fast 40 Mio. Brasilianerinnen und Brasilianern in die untere Mittelschicht und eine sehr kluge Politik der Umverteilung wurden die traditionellen Oberschichten und Mittelschichten sehr verunsichert. Gleichzeitig wurden in den aufgestiegenen Schichten sehr viele Erwartungen geweckt. Diese Politik war zum Teil auch riskant, weil der Staat billige Kredite vergeben hat und dadurch die Privatverschuldung stark gestiegen ist. Durch die Wirtschaftskrise und die Jobverluste der traditionellen Oberschicht, aber auch der aufgestiegenen Schichten gibt es nun unglaubliche Spannungen. Die gab es zwar vorher auch schon, nur waren die Räume getrennter. Die Oberschichten beanspruchten öffentliche Räume, wie Shopping-Center oder Flugzeuge, exklusiv für sich. Nun sind beide Seiten enttäuscht. Dies manifestiert sich als politische Krise, wie sich bei den letzten Parlamentswahlen deutlich gezeigt hat; aber auch als eine kulturelle Krise, weil sich dadurch alte Gräben wieder aufgetan haben. Das lässt sich etwa am Beispiel der Aufarbeitung versus Verteidigung der Militärdiktatur 1964-1985 zeigen.
Argentinien
Mauricio Macri von der konservativen Partei Propuesta Republicana setzte sich am 22. November 2015 in der Stichwahl um das Präsidentenamt mit 51,34 Prozent der Stimmen gegen den Regierungskandidaten Daniel Scioli durch. Er löste die Peronistin Cristina Kirchner nach dem Ablauf ihrer zweiten Amtszeit als Staatspräsidentin ab.
Brasilien
Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores ist seit dem 1. Jänner 2011 Präsidentin Brasiliens. Nach ihrer Wiederwahl am 26. Oktober 2014 endet ihre Amtszeit regulär am 31. Dezember 2018.
Venezuela
Nicolás Maduro wurde im Oktober 2012 Vizepräsident der Präsidialen Bundesrepublik Venezuela und führte die Amtsgeschäfte für den erkrankten Hugo Chávez bis zu den vorgezogenen Neuwahlen, die mit dessen Tod am 5. März 2013 notwendig wurden. Die gewann er am 4. April 2013 mit 50,66 Prozent der Stimmen gegen den Kandidaten der Opposition, Henrique Capriles. C.S.
In Argentinien hat es Ex-Präsidentin Cristina Kirchner zwar geschafft, Sozialpolitik für breitere Bevölkerungsschichten zu machen, Pensionsfonds zu verstaatlichen und auszuweiten und die Armut zu verringern. Doch sie hat sich mit ihrer klientelistischen und intransparenten Politik auch angreifbar gemacht. Sie wurde auch von Menschen abgewählt, die ich nicht unbedingt dem rechten Lager zuordnen würde. Sie hat Unternehmen verstaatlicht, die in den roten Zahlen waren und blieben und die Preise von Grundnahrungsmitteln stützen lassen. Das brachte ihr Probleme mit Agrar-Gewerkschaften und Landwirten, die nicht mehr gewinnbringend produzierten. Zudem steuerte sie eine revisionistische Geschichtspolitik, die den alten Peronismus der 1940er Jahre als demokratisch verkaufte.
Und in Venezuela?
Hugo Chávez hat eine nicht nachhaltig finanzierbare Sozialpolitik vorangetrieben, weil diese fast gänzlich vom Ölpreis abhängig war. Venezuela liegt nun am Boden, die Inflation ist exorbitant, und auch die alten Anhängerinnen und Anhänger von Chávez sind äußerst enttäuscht von dem, was vom Chavismus übrigblieb, selbst wenn sie ihn teilweise immer noch glorifizieren. Wenn auch seine moderne Verfassung, die indigene Landrechte berücksichtigt, wegweisend war – wie auch die Landreform, neue Regionalbündnisse wie ALBA und die bolivarianischen Nachbarschaftszentren: Viel von dieser Politik ist gescheitert. Dies hat auch mit den egomanischen, populistischen Zügen von Hugo Chávez zu tun. Diesen ist es vielleicht auch geschuldet, dass er, wie auch Kirchner in Argentinien, keine adäquate politische Nachfolge aufbauen konnte. Beide haben es nicht geschafft, alte Gräben zu schließen oder Vertrauen bei den konservativeren, neoliberaleren oder einfach auch liberaleren Schichten zu wecken. Sie haben durch ihre provokante Feind-Rhetorik verunsichert und überdies die Zivilbevölkerung nicht gerne als kritische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mit Gestaltungsanspruch akzeptiert. Die Folge? In beiden Ländern haben nun die rechten, neoliberalen Kräfte gewonnen.
Wie geht es weiter?
Argentinien wird meiner Meinung nach zu einer neoliberalen Politik zurückkehren. Damit wird die Krise möglicherweise überwunden, zumindest für manche Betrachterinnen und Betrachter. Ich hoffe, dass Mauricio Macri die Sozialpolitik der Cristina Kirchner nicht ganz zurückfahren wird. Sonst besteht die Gefahr, dass diverse Bevölkerungsschichten wieder aus dem nationalen Projekt fallen. Das befürchte ich auch in Venezuela. Chávez‘ Nachfolger Nicolás Maduro ist ein schwacher Präsident und der Krise in keiner Weise gewachsen, schon gar nicht unter dem Druck der erstarkten Rechten. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er seine Amtszeit zu Ende führen wird.
In Brasilien ist der Druck der Rechten auch besorgniserregend. Zudem ist die PT-Basis gespalten, aber Brasilien wird diese Krise am ehesten überwinden, weil es auf eine diversifizierte Wirtschaft und Binnenkonsum bauen kann und weniger Populismus zu überwinden hat.
Wird die Linke in Südamerika diese Krisen überleben?
Ich würde die linken Bewegungen nicht alle für tot erklären. In Brasilien ist ja noch eine Mitte-links Regierung an der Macht und in Bolivien auch. Und wir dürfen Uruguay nicht vergessen, das wenig beachtet von Europa eine erfolgreiche Sozialpolitik gemacht hat. Diese Krisen sind eine Chance für die Linke, auch Selbstkritik zu üben und sich vor allem vor populistischer und vor klientelistischer Politik zu hüten. Das Ende der linken Regierungen auszurufen, fände ich überzogen.
Interview: Christina Schröder
Ursula Prutsch ist eine österreichische Historikerin und Dozentin für Geschichte am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München.
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