Frauenschicksale aus einer Favela in der Megastadt Săo Paulo zeigen den Einfluss der Wirtschaft auf die Form des familiären Zusammenleben.
Lange Zeit wohnte Raimunda in baufälligen Behausungen ohne fließendes Wasser und ohne Anschluss an das öffentliche Kanalsystem. Vor knapp zehn Jahren errichtete dann ihr mittlerweile verstorbener Ehemann ein kleines Häuschen aus alten Ziegeln. Hinter Raimundas Heim beginnt die eigentliche Favela, die sich über einen lang gezogenen Hügel erstreckt. Ganz unten, dort wo die Schienen der Vorortelinie die Ausdehnung des Slums abrupt unterbrechen, steht die aus Holzlatten gefertigte Hütte von Jacira.
Raimunda stammt aus einem kleinen Dorf aus dem Nordosten Brasiliens. Mit sieben Jahren wurde sie von einer Familie aus der Mittelschicht aufgenommen, bei der sie dann bis zu ihrer Hochzeit als Hausangestellte leben und arbeiten sollte.
Gemeinsam mit ihrem Mann zog sie, wie so viele andere „nordestinos“, nach Săo Paulo in der Hoffnung, dort eine besser bezahlte Arbeit zu finden. Raimundas Mann begann zu trinken. Gewalttätige Auseinandersetzungen sollten bald zu ihrem Alltag gehören, sodass Raimunda den Tod von José eher als eine Art Erlösung empfand. Heute ist Raimunda 63, sie kann weder lesen noch schreiben. In ihrem Heim leben drei ihrer sechs bereits erwachsenen Kinder. Daneben zieht sie noch zwei Enkelkinder auf, deren Mutter im Landesinnern eine zweite Ehe eingegangen ist.
Das monatliche Budget des sechsköpfigen Haushalts beträgt nicht ganz 350 Reais, umgerechnet etwa 2.900 Schilling. Raimunda bezieht eine kleine Pension von ihrer Hausangestelltentätigkeit, daneben sammelt sie auf den Straßen Blechdosen, die sie zum Kilo-Preis an eine Recycling-Firma verkauft.
Jacira ist gerade erst 25 Jahre alt, aber so wie Raimunda muss auch sie allein für ihre drei Kinder sorgen. Den Vater ihrer beiden ersten Söhne meidet sie. Er ist in den Drogenhandel verwickelt. Ihr zweiter Lebensgefährte wurde im Streit von einem Nachbarn erschossen. Das geschah einen Tag nach der Geburt ihres dritten Kindes. Jacira ist als Putzfrau in einem Supermarkt tätig. Sie verdient etwas mehr als den „Mindestlohn“ (190 Reais), daneben bekommt sie Gutscheine für das Mittagessen und den Transport zum Arbeitsplatz. Das alles reicht kaum aus, um sich und ihre Kinder anständig zu ernähren, geschweige denn die kaum 5m˛ große Hütte, die beim letzten Tropenregen beinahe weggeschwemmt worden ist, mit stabilerem Baumaterial auszubessern.
An den Peripherien der brasilianischen Großstädte gibt es viele Familien, die denjenigen von Raimunda und Jacira ähneln. Im Großraum von Săo Paulo, in dem heute über 15 Mio. Menschen leben, stieg in den letzten Jahren der Anteil der Ein-Eltern-Familien auf über 12% aller erfassten Familien an. Auffallend ist, dass diese Familienform in der Oberschicht relativ selten anzutreffen ist (7%), wohingegen sich in der Unterschicht jede fünfte Familie aus nur einem Elternteil, Kindern und evtl. noch anderen Verwandten zusammensetzt. In den allermeisten Fällen ist die Mutter das Oberhaupt der Ein-Eltern-Familien.
Erschwert wird die Situation derartiger Familien dadurch, dass Frauen im allgemeinen immer noch geringere Löhne auch für gleiche Arbeitsleistungen erhalten: durchschnittlich verdienen die brasilianischen Frauen 35% weniger als die Männer. Zusätzlich wirkt vor allem die Hautfarbe als Diskriminierungsfaktor, was Berufschancen und Gehälter betrifft, sodass „schwarze“ Frauen in allen sozio-ökonomischen Statistiken am schlechtesten abschneiden. Es ist kein Zufall, dass Raimunda und Jacira zu dieser „statistischen Kategorie“ gehören. Da hilft es auch wenig, dass in den letzten fünf Jahren der Anteil der Frauen am Arbeitsmarkt in relativen Zahlen zunahm.
Die Arbeitslosigkeit stieg allgemein drastisch an (1999: knapp 20%), das Pro-Kopf-Einkommen nahm ab, und die Kluft zwischen arm und reich vergrößerte sich weiterhin. Angesichts der prekären wirtschaftlichen Situation der Armenbevölkerung ist es nicht verwunderlich, dass in Brasilien Kinderarbeit immer noch ein weit verbreitetes Phänomen darstellt (17% aller 10-14jährigen). Auch Jaciras ältester Sohn konzentriert sich bereits mehr auf den Markt „Straße“ als auf den Schulbesuch.
Der politische und ökonomische Hintergrund dieser Entwicklungen, die wie immer die ärmsten Familien am stärksten belasten, wurde in den letzten fünf Jahren vom neoliberalen Regierungsprogramm von Fernando Henrique Cardoso gestaltet, das auf die „Integration Brasiliens in die globalisierte Welt“ abzielt. Seit der frühen Kolonialzeit hatten die ökonomischen Projekte der brasilianischen Elite dramatische Auswirkungen auf die Familienstrukturen der breiten Masse.
Die aus Afrika importierten Sklaven galten als Eigentum des Sklavenherren. Erst im Jahr 1869 wurde ein Gesetz erlassen, das es ausdrücklich untersagte, verheiratete Sklaven und deren Kinder unabhängig voneinander zu verkaufen. Die fünf Millionen Hausangestellten des Landes, die auch heute zum „Inventar“ jeder gut situierten brasilianischen Familie gehören, können als eine Überlebensform der Institution Haussklaverei gelten. 800.000 von ihnen sind Mädchen zwischen 10 und 17 Jahren. Die allerwenigsten der vornehmlich weiblichen Hausangestellten verfügen über eine „carteira assinada“, das heißt, sie sind nicht legal gemeldet und haben daher auch keinen Anspruch auf die in der Verfassung festgelegten Arbeitsrechte.
Die glückliche Kernfamilie ist auch in Brasilien nach wie vor fixer Bestandteil von TV-Werbe-Spots und den allseits beliebten Tele-Novelas. Es ist ein Ideal, das weder den indianischen und afrikanischen Traditionen, noch dem Modell der oligarchischen Sklavenherrenfamilien entspricht. Die Anforderungen der Moderne, die gleichsam mit dem Stichwort „Globalisierung“ auf die brasilianische Gesellschaft hereinstürzen, stellen eine zusätzliche Zerreißprobe für eine derartige idealisierte Lebensform dar.
Andreas Hofbauer studierte Ethnologie in Wien. Seit 1987 unterrichtet er an einer Universität in Săo Paulo.
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