Krisen, Olympia, und jetzt auch noch Zika. Zudem Korruptionsvorwürfe in der Regierung und teils unlautere oder auch gewalttätige Versuche der Rechten, die Präsidentin aus dem Amt zu treiben. Andreas Behn liefert ein Stimmungsbarometer aus Brasilien.
Vorfreude auf die Olympischen Spiele? „Ganz im Gegenteil!“ Regina Cardozo verzieht das Gesicht, nachdem sie eben noch begeistert vom Karneval erzählt hat, der in Rio de Janeiro jedes Jahr zehn Tage vor dem Rosenmontag beginnt. „Überall wird gebaut, die ganze Stadt ist ein einziger Stau“, klagt sie. Und schon jetzt sei abzusehen, dass die U-Bahn nicht rechtzeitig fertig wird.
Wie viele Cariocas, so heißen die BewohnerInnen von Rio de Janeiro, ist Regina nicht gut auf das Sportspektakel zu sprechen, das heuer im August stattfinden wird. Die Stadtregierung setzt alles daran, die Wettkampfstätten und neue Verkehrswege fristgerecht fertigzustellen. „Die Stadt ist pleite, und dennoch fließen Millionen in die Spiele, für die sich hier kaum wer interessiert.“ Regina redet sich in Fahrt. Der Karneval-Umzug, den sie zuvor zwei Stunden lang tanzend bei über 35 Grad begleitet hatte, scheint vergessen.
Teures Leben. Jetzt sitzt Regina in einer überfüllten Straßenkneipe in Botafogo, einem wohlhabenden Stadtviertel am Fuße des Zuckerhuts. Autos und Busse donnern vorbei. Der Krach hält die lärmerprobten BrasilianerInnen nicht von ihrem Lieblingsthema ab: die Krise. „Die Inflation liegt inzwischen bei über zehn Prozent“, sagt einer, der mit ihr trinkt und zeigt auf den Bierpreis. 13 Reais, umgerechnet gut drei Euro für eine Flasche Bier (600 ml). Vor allem Essen und Trinken sei viel teurer geworden.
Regina leitet eine Boutique in einem der großen Shoppingcenter. „Seit über einem Jahr geht der Umsatz langsam aber sicher zurück. Reiche wie Arme haben weniger Geld. Einige werden arbeitslos, andere bekommen keinen Kredit mehr, es ist eine Kettenreaktion.“ Sie habe Angst, dass sie, wie viele andere, bald schließen muss, sagt Regina.
80.000 Geschäfte im Einzelhandel hätten im vergangenen Jahr zusperren müssen, erklärte kürzlich die Nationale Handelskonföderation CNC. Der Absatzrückgang betrifft alle; auch große Ketten wie Walmarkt und C&A mussten zahlreiche Filialen aufgeben.
Falsch regiert? In den bessergestellten Vierteln herrscht oft Einigkeit, dass die Regierung an allen Missständen schuld sei. Der regierenden Arbeiterpartei PT wird Korruption vorgeworfen, eine falsche Wirtschaftspolitik und zu viele Sozialprogramme für Arme. 13 Jahre sei die Linke jetzt schon dran, ein Wechsel sei überfällig. „Bestimmt sind die auch an dem Zika-Virus schuld“, ruft der Biertrinker.
Das ist Regina nun doch zu platt. Sie wendet sich ab und wird ernst. Weil das von Mücken übertragene Virus zu schweren Missbildungen bei Neugeborenen führen kann, ist eine Bekannte von ihr gerade in die USA gereist, um sich nicht während der Schwangerschaft zu infizieren. Auch eine Abtreibung erwäge sie, so wie viele andere. „Immerhin hat sie Geld für eine solche Reise. Oder notfalls für die Abtreibung. Für Ärmere kündigte die Regierung an, kostenlos Mückenschutz zur Verfügung zu stellen. Aber ob das wirklich hilft?“.
Stimmungstief. Die Stimmung in Brasilien ist schlecht. Das Zika-Virus ist nur die Spitze des Eisbergs. Eigentlich begann das Stimmungstief schon vor der Fußball-WM 2014, auch vor dem 1:7 gegen die Deutschen. Es wurde deutlich mit den Massendemonstrationen im Juni 2013, die sich gegen gravierende Mängel bei öffentlichen Dienstleistungen und Korruption in der Politik richteten. Nach einem Jahrzehnt stabilen Wirtschaftswachstums und international gepriesener Sozialpolitik geriet Brasilien zuerst in eine Wirtschaftskrise und danach in eine politische Krise. Zwar wurde Dilma Rousseff von der ArbeiterInnen-Partei (Partido dos Trabalhadores, PT) und die Nachfolgerin des einst so populären Gewerkschafters Luiz Inácio Lula da Silva Ende 2014 im Präsidentenamt bestätigt, doch die Beliebtheitswerte der Präsidentin sind im einstelligen Bereich gelandet. Die konservative Opposition setzt alles daran, Rousseff vorzeitig aus dem Amt zu drängen.
Nicht einmal die Regierung versucht mehr, das Ausmaß der Rezession zu vertuschen. Um 3,7 Prozent brach das Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr ein, die Industrieproduktion schrumpfte sogar um über acht Prozent. Der Verlust an Arbeitsplätzen ist so hoch wie seit 25 Jahren nicht mehr. Zwei Rating-Agenturen haben das größte Land Lateinamerikas bereits auf Ramsch-Niveau herabgestuft. Eine dramatische Lage, die vor allem für diejenigen einen Rückschlag bedeutet, die sich aufgrund des letzten Aufschwungs schon fast zur Mittelschicht gezählt haben. Uneinigkeit gibt es vor allem über die Ursache des Abschwungs: Während Rousseff auf externe Faktoren wie Finanzkrise und sinkende Exportpreise verweist, macht die Rechte die von der PT propagierte Sozialpolitik und die staatlichen Eingriffe ins Marktgeschehen für die Krise verantwortlich.
Dilma vor dem Aus? Steht der Sturz von Rousseff und damit das Ende von inzwischen 13 Jahren sozialdemokratischer PT-Regierung unmittelbar bevor? „Nein“, sagt Rafael Campos. Die Opposition mache zwar viel Lärm, habe aber keine Alternative und auch keine starken KandidatInnen zu bieten. „Fast alle Wortführerinnen und Wortführer der Rechten sind wie zahlreiche Regierungspolitikerinnen und -politiker in Korruptionsfälle verstrickt. Das Problem dieser Regierung sind ihre eigenen Fehler, nicht die Stärke der Opposition.“
Rafael ist in der Metropole São Paulo in der Schwarzen-Bewegung aktiv. Dort, wo einst Lula die Metallarbeiter organisierte, ist der Rechtsruck bei den letzten Wahlen besonders deutlich geworden. Im Kongress haben rechte bis teils strikt reaktionäre Ideen die Oberhand gewonnen. Die AgrarierInnen, die für eine weitere Ausbreitung der Landwirtschaft auf Kosten des Urwalds plädieren und oft mit Gewalt Indigene vertreiben, die Evangelikalen, denen Homosexuelle und Frauenrechte ein Gräuel sind und die Ballermänner und -frauen, die sich für mehr Waffen in Bürgerhänden einsetzen. All diese Fraktionen und ScharfmacherInnen aller Couleur halten zusammen, um Rousseff das Regieren so unmöglich wie möglich zu machen.
Rechte will zurück. Rafael zeichnet ein düsteres Bild. „Es ist eigentlich keine demokratische Opposition mehr. Die Rechte will zurück an die Macht, und da sie es offensichtlich nicht bei Wahlen schafft, wird eine Putschstimmung entfacht.“ Das Wort „Staatsstreich“ nehmen auch immer öfter PT-PolitikerInnen in den Mund, wenn sie das Vorgehen der Opposition kritisieren. Vor allem das Amtsenthebungsverfahren, das mehrere Oppositionelle gegen Rousseff auf den Weg gebracht haben, erregt die Gemüter. Die vertrackte Lage führt dazu, dass die PT verzweifelt nach BündnispartnerInnen sucht – sei es im rechten Spektrum oder bei dubiosen Splitterparteien. Die einst durchaus fortschrittliche Politik der PT ist mittlerweile völlig verwässert. Deswegen falle es vielen Linken und den sozialen Bewegungen schwer, die in Not geratene Regierung zu unterstützen, sagt Rafael nachdenklich. „Trotz aller Kritik gibt es viele Errungenschaften der letzten Jahre, die unbedingt verteidigt werden müssen. Die Umverteilungspolitik, Quoten für die schwarze Bevölkerungsmehrheit, die progressive Außenpolitik.“
Wenn es hart auf hart kommen sollte, würde die alte PT-Basis auf die Straßen gehen, hofft Rafael. Die Gewerkschaften, die Landlosenbewegung, die Studierenden. Bislang allerdings dominiert die Rechte auf den Straßen. Alle paar Monate demonstrieren Zehntausende in ganz Brasilien für einen Regierungswechsel. Manchmal wirke es wie ein Mob, sagt Rafael. „Auf Transparenten wird die Rückkehr der Militärdiktatur gefordert, gegen Linke und Andersdenkende wird zur Lynchjustiz aufgerufen.“ Und auch die Massenmedien mit ihrer hetzerischen Parteinahme für die Rechte haben großen Anteil an der zunehmenden Aggressivität, fügt Rafael hinzu.
Polarisierung. Die Stimmung ist angespannt. Konservative fürchten, dass Brasilien in einem Wirtschaftschaos versinkt, Linke warnen vor einem Rechtsruck mit faschistoiden Tendenzen. Steht eine Polarisierung wie im Nachbarland Venezuela bevor? Orlando Junior dos Santos, Soziologieprofessor an der staatlichen Universität UFRJ, beruhigt: „Das Land verfügt über sehr stabile Institutionen, die Demokratie ist gefestigt. Es stimmt, dass das Regieren derzeit äußerst kompliziert ist. Doch an chaotischen Zuständen hat nur eine Minderheit Interesse.“
Andreas Behn, Journalist und Soziologe, lebt seit über zehn Jahren in Rio de Janeiro und berichtet seit 2012 für verschiedene Medien aus der Region.
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