Wie es zu dem immer hemmungsloser geführten Machtkampf zwischen Regierung und Opposition in Venezuela kam und welche Folgen er hat, umreißt Jürgen Kreuzroither.
Venezuelas langjähriger Präsident Hugo Chavéz, der 2013 verstarb, hinterließ seinem Nachfolger, dem jetzigen Präsidenten Nicolás Maduro, ein durchwachsenes Erbe. Zunächst, weil die Amtsübernahme Maduros nicht durch Wahlen legitimiert wurde, sondern durch die bloße Nominierung der Rückhalt bei der Parteibasis geringer ausfallen musste. Als sich dann von 2014 auf 2015 die Weltmarktpreise für Erdöl praktisch halbierten, wurde die hohe Exportabhängigkeit von diesem einen Rohstoff schlagend (vgl. auch Artikel „Lateinamerika: ‚Korruption tötet‘“ in SWM 7/2017). Zusätzlich eingeschränkt wurde der Budgetspielraum durch zuvor erfolgte hohe Kreditaufnahmen, insbesondere bei China: Dabei musste Venezuela Kredite über viele Jahre hinweg mit Öllieferungen zu einem bestimmten Wert zurückzahlen. Wenn der Ölpreis wie gerade jetzt tief ist, muss Venezuela eine viel größere Menge liefern als zu Kreditabschluss angenommen. Dadurch werden die Staatseinnahmen reduziert.
Fast noch größere Schwierigkeiten bereitete Maduro jedoch das ererbte System aus festen Wechselkursen und Preiskontrollen durch den Staat. Es war in den frühen 2000er Jahren als Antwort auf die ökonomische Sabotage durch die von Unternehmerkreisen dominierte Opposition geschaffen worden, führte aber zunehmend zu falschen Anreizen. Wer Zugang zu Dollars zum Präferenzpreis bekam, konnte diese auf dem Schwarzmarkt mit riesigem Aufschlag verkaufen. Die gleichen Anreize kamen bei Nahrungsmitteln, Medizin und anderen Waren des Grundbedarfs ins Spiel.
Indem Maduro das System zwar anklagte, aber nicht antastete, hielt er die Tore zur Plünderung des Staatshaushalts bei gleichzeitiger Verschärfung der Versorgungslage offen. Es wird vermutet, dass er sich nicht mit ProfiteurInnen in den eigenen Reihen anlegen will. So flüchtete sich ein schwacher Präsident in einer zugegeben komplizierten Konstellation in zunehmend autoritäre Maßnahmen. 2013 bei den Präsidentschaftswahlen nur knapp bestätigt, verlor seine Partei im Dezember 2015 die Parlamentsmehrheit klar. Seither regiert Maduro mit Notverordnungen und mit Hilfe eines willfährigen Obersten Gerichtshofes am Parlament vorbei.
Eskalation. Am 30. März entmachtete der Oberste Gerichtshof das Parlament und versah sich selbst mit den legislativen Funktionen. Dies wurde zwar kurz darauf durch eine Intervention Maduros teilweise revidiert, aber seither ist es offenkundig, dass der Gerichtshof als Anhängsel der Regierung agiert.
Die einsetzende Protestwelle auf den Straßen erreichte in der Folge neue Dimensionen. Seit Anfang April hat die Protestwelle mehr als 130 Todesopfer und 3.500 Verletzte gefordert. Mehr als 1.000 Verhaftungen wurden vorgenommen. Dabei kann die Opposition von der Bilanz nicht ausgenommen werden: Laut einer Untersuchung durch die Vereinten Nationen waren oppositionelle Ausschreitungen Ursache für mehr als ein Drittel der Todesfälle.
Erstmals regt sich aber auch im chavistischen Lager vernehmbarer Widerspruch, etwa von der inzwischen abgesetzten Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz. Sie kritisierte u.a. die Einsetzung einer verfassunggebenden Versammlung. Die umstrittene Wahl dazu wurde Ende Juli abgehalten. Das Oppositionsbündnis Mesa de la Unidad (MUD) verweigerte nicht ohne Grund die Teilnahme: Die Wahlkreise wurden so ausgetüftelt, dass eine chavistische Mehrheit sicher erschien. Die behauptete Wahlbeteiligung von über 40 Prozent wird angesichts der Stimmung im Land vielfach angezweifelt.
Abwärtsspirale. Die Rezession und eine Inflation von rund 700 Prozent haben die Gehälter pulverisiert. Rund 1,5 Millionen VenezolanerInnen, vor allem aus der Mittelschicht, haben das Land schon in den vergangenen 20 Jahren verlassen. Die Arbeitslosigkeit hat epidemische Ausmaße erreicht. Die Armutsrate hat sich laut inoffiziellen Zahlen zwischen 2014 und 2016 verdoppelt. Gerade die ärmeren Teile der Bevölkerung sind traditionell Chavistas. Dass diese sich nun angesichts der Not nicht noch stärker den Protesten der Opposition anschließen, mag an einigen ihrer ExponentInnen liegen, die zu sehr an die neoliberale Misere vor Chavéz erinnern. Auch schreckt die Gewalt bei den Protesten ab, und vielen Menschen fehlt durch den täglichen Überlebenskampf schlicht Energie und Zeit.
Der Wunsch nach Befriedung und Normalisierung ist groß. Doch die Dialogbereiten werden zurzeit von Hardlinern in beiden Lagern übertönt. Die Weichen sind Richtung weitere Eskalation gestellt.
Jürgen Kreuzroither ist Mitglied der Zeitschriftenredaktion von Lateinamerika Anders und lebt in Wien.
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