Auch innerhalb wachsender Wirtschaften breiten sich Inseln des Elends aus – versteckt hinter statistischen Mittelwerten und politischer und sozialer Ignoranz.
Der Hurrikan Katrina hat die tiefen sozialen und ökonomischen Gräben innerhalb der USA entblößt. 100.000 Menschen, ein Fünftel der Bevölkerung von New Orleans, zum Großteil Schwarze, waren einfach zu arm, dem Aufruf, die Stadt zu verlassen, Folge zu leisten. Den Regierenden und ihren Katastrophen-Managern hatte es an sozialer Phantasie und an politischem Interesse gefehlt, sich vorzustellen, wie es sich als Armer lebt – ohne Auto, ohne Kreditkarte, ohne Unterschlupfmöglichkeit außerhalb des Katastrophengebietes. Eine besondere Schande für einen der reichsten Staaten der Erde. Enklaven der Armut und horrende Ungleichheit sind jedoch keine US-amerikanische Besonderheit.
Innerhalb der einzelnen Länder tun sich genauso tiefe Abgründe auf wie zwischen den verschiedenen Ländern, stellt der soeben erschienene „Bericht über die menschliche Entwicklung 2005“ des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) fest.
Die Lebenschancen innerhalb einer Gemeinschaft sind ungleich verteilt. Nicht alle können ihr eigenes Potenzial entwickeln: weil sie in arme Familien geboren sind, Frauen sind, auf dem Land wohnen oder einer diskriminierten Minderheit angehören. Dazu haben die Benachteiligten meist nicht die Möglichkeit, sich politisch Gehör zu verschaffen. Diese Faktoren verstärken sich noch gegenseitig. Der Teufelskreis der Benachteiligung wirkt lebenslang und darüber hinaus auch noch für die nächsten Generationen. Die Ungleichverteilung wächst klar erkennbar, stellt das UNDP fest, sowohl in reichen als auch in armen Ländern.
Ungleiche Verteilung ist ein blinder Fleck in der Wahrnehmung: verborgen hinter ökonomischen nationalen Mittelwerten, im eigenen Land von den Bessergestellten nicht wahrgenommen, von der Politik ignoriert, in entwicklungspolitischen Konzepten nicht selbstverständlich angesprochen. Die Millenniums-Entwicklungsziele zum Beispiel, das ehrgeizigste entwicklungspolitische Vorhaben aller Zeiten (siehe auch Beitrag auf Seite 26), sind in Gestalt nationaler Mittelwerte formuliert.
Derartige Ungleichheiten sind nicht nur aus ethisch-moralischer Sicht verwerflich, sondern – zu diesem Schluss kommt das UNDP – auch wirtschaftlich kontraproduktiv. Sie sind schlecht für Wachstum, für Demokratie und den sozialen Zusammenhalt. Verkürzt könnte man sagen: Ungleichheit hemmt Entwicklung. Umgekehrt verzeichnet Bangladesch, das über geringes Einkommen verfügt, wo jedoch in Folge gezielter Politik wenig Ungleichheit herrscht, erhebliche Entwicklungsfortschritte. Nicht nur die Quantität des Wachstums, sondern vor allem die Qualität (Wachstum für wen?) ist Voraussetzung für Entwicklung. Wenn die Armen der Welt bis 2015 ihren Anteil am zukünftigen Wachstum verdoppeln, so hat das gemäß einer Modellrechnung des UNDP geringe Auswirkung auf die weltweite Einkommensverteilung insgesamt, jedoch deutliche Auswirkungen auf die Armut.
Auch wenn es die Marktfundamentalisten und die Wachstumsfetischisten nicht gerne hören: Daraus folgt auch, dass Entwicklung staatliche Intervention braucht und keine Entwicklung ohne Politik möglich ist.