„Bindung ist für jedes Kind lebenswichtig“

Von Redaktion · · 2014/10

Warum die Trotzphase in den meisten Teilen der Welt unbekannt ist und die Mutter-Kind-Bindung überschätzt wird, erklärt die Psychologin Heidi Keller im Interview mit Südwind-Redakteurin Nora Holzmann. Jahrzehntelang hat die ehemalige Professorin der Universität Osnabrück in Ländern wie den USA, Brasilien, Kamerun, Indien oder Südafrika zu kindlicher Entwicklung und Kultur geforscht.

Südwind-Magazin: Sie haben untersucht, wie Familien beim Volk der Nso im ländlichen Kamerun mit ihren Kindern umgehen und wie das städtische Mittelschichtsfamilien in Deutschland tun. Welche Unterschiede haben Sie festgestellt?
Heidi Keller:
Die Sozialisation westlicher Mittelschichtsfamilien ist darauf ausgerichtet, die Eigenständigkeit und die innere Welt des Kindes zu betonen. Das Kind wird als abgegrenztes Individuum mit ganz vielen Rechten behandelt. Ihm werden schon ab dem ersten Tag seines Lebens zahlreiche Fragen gestellt, nach seinen Vorlieben und Wünschen. Damit betont man seine psychologische Autonomie, also seine Selbstbestimmtheit über das eigene Leben.

Das Bauernkind in einem traditionellen Dorf in Kamerun wächst mit einem Gefühl der Zusammengehörigkeit auf. Das Kind wird als Teil einer sozialen Gemeinschaft behandelt, aus der kein einzelnes Kind herausstechen soll. Man will dazu gehören, man will wie alle anderen sein und nicht – wie bei uns – sich von ihnen unterscheiden. Kinder sollen früh ihre Rolle lernen und ihre Pflichten in der Familie erfüllen. Das soll nicht heißen, dass man gezwungen wird, sich unterzuordnen. Es ist einfach eine andere Weltsicht, eine kommunale Perspektive.

Debatten über frühkindliche Erziehung sind bei uns stark von der Bindungstheorie geprägt. Diese besagt, dass die Mutter-Kind-Bindung von größter Bedeutung für eine gesunde Entwicklung ist. Sie sagen, das sei ein Konstrukt unserer westlichen Gesellschaft.
Bindung ist für jedes Kind lebenswichtig. Wie diese allerdings aussieht und zu wem Bindung aufgebaut und aufrechterhalten wird, das ist sehr kulturspezifisch. Es herrschen diesbezüglich in der Forschung noch große Wissensdefizite. Die Bindungstheorie, wie wir sie kennen, ist auf die westliche Mittelschicht ausgelegt. In anderen Kulturen sind oft die Geschwister die primären Bezugspersonen oder es ist die Großmutter. Die Mutter mag eine besondere Rolle in den ersten Lebensmonaten spielen – oder auch nicht. Diese ausschließliche Mutterbezogenheit ist ein sehr eingegrenztes Phänomen der westlichen Mittelschicht.

Ist denn die Trotzphase bei kleinen Kindern, die bei uns als selbstverständlich gilt, ein globales Phänomen?
Eine Trotzphase kennen wir aus vielen anderen Kulturen überhaupt nicht. Bei uns ist es aber eine klare Konsequenz unseres Handelns: Wenn ich einem Kind zwei Jahre lang jeden Wunsch von den Augen ablese, wenn ich es ständig frage, was es möchte, ihm ständig erzähle, wie toll und einmalig es ist, dann muss irgendwann der Bruch kommen – spätestens, wenn das Kind mobiler wird und sich in Gefahren begibt. Wenn Kinder noch keine Erfahrungen mit Grenzsetzungen gemacht haben, reagieren sie dann mit Wut und Protest.

In anderen Ländern stehen die Rechte und Pflichten der Einzelnen gegenüber den Anderen, gemeinsame Umgangsformen und Regeln schon von Anfang an im Vordergrund. Hier gibt es diese Konfrontation zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht. Kinder wachsen in den meisten Ländern von Geburt an in hierarchische Systeme hinein, in denen jeder seinen Platz hat und wo das zu tun, was Ältere sagen, seien es Geschwister, seien es Tanten, absolute Priorität hat. Es ist erstaunlich, wie viel weniger brüllende Kinder man in kamerunischen Dörfern hört, als wenn man bei uns in Deutschland durch die Stadt geht.

Erziehung bereitet Kinder auf die Gesellschaft vor, in der sie dann als Erwachsene leben werden. Wäre es überhaupt sinnvoll, in Österreich oder Deutschland ein Kind so zu erziehen, wie man das in Nigeria oder Indien tut?
Die Übernahme von Praktiken von einer Kultur zur anderen macht so keinen Sinn. Wir müssen uns aber anschauen, welche Entwicklungskonsequenzen unsere eigenen Praktiken haben. Was wir etwa in unserer Gesellschaft beobachten, ist ein massiver Verlust an Soziabilität. Die Kinder, die immer im Mittelpunkt stehen, haben irgendwann erhebliche Schwierigkeiten, sich sozial zu verhalten. Wir haben Untersuchungen, die zeigen, dass manche Kinder gerade noch mit einem anderen Kind zurecht kommen, sie wissen aber schon nicht mehr, was man zu dritt miteinander macht und sind hilflos, wenn sie in der Gruppe eine Aufgabe lösen müssen. Wir sollten uns also Gedanken darüber machen, was die längerfristigen Konsequenzen für diese Kinder selbst sind.

Vor welchen Herausforderungen stehen denn Familien in Österreich, bei denen die Eltern aus anderen Kulturen stammen und selbst mit anderen Erziehungskonzepten aufgewachsen sind?
Erziehung orientiert sich an der jeweiligen Gesellschaft, viele Kinder erfahren aber einen Wechsel. Sie kommen durch die Migration in einen anderen Kontext, als ihre Eltern vielleicht ursprünglich für sie vorgesehen hatten. Hier können völlig unterschiedliche Lebenskonzepte aufeinander prallen. Zum Beispiel bei Regeln, die das Sozialverhalten betreffen: Einordnen in die Gruppe versus der Einstellung „Ich bin der König der Welt“. Oft ist es aber eher der Grad der Bildung, der den Unterschied macht. Viele Migrationsfamilien, besonders aus bildungsfernen Schichten, lehnen etwa den Umgang mit Kindern in den Kindergärten hier ab, sie finden ihn sogar schädlich. Hier gibt es viel Aufholbedarf, um den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden.

Was könnten die Kindergärten besser machen?
Sie tun schon eine Menge Gutes, aber die Pädagoginnen sind in der Ideologie der psychologischen Autonomie ausgebildet. Das heißt, sie sollen sich mit dem einzelnen Kind beschäftigen, mit dem einzelnen Kind eine Bindung aufbauen, und sie sollen die Kinder frei spielen lassen, damit diese herausfinden, was sie selbst wollen. Gruppenprozesse – eine große pädagogische Ressource – werden gar nicht genutzt. In dieser Hinsicht müsste mehr in die Aus- und Fortbildung investiert werden. Kinder lernen auch von anderen Kindern unheimlich viel.

Stichwort „Neue Väter“: Gibt es wirklich eine allgemeine Entwicklung hin zu einer aktiveren Vaterrolle? Und wo auf der Welt sind die engagierten Väter zu finden?
Die „Neuen Väter“ werden nun schon seit einigen Jahren von den Medien als Trend ausgerufen. Ich sehe das als sehr begrenztes Phänomen unserer Gesellschaft, das sich nicht in der Breite durchgesetzt hat. Es handelt sich um eine Reihe von jüngeren Akademiker-Männern, die mit Frauen partnerschaftliche Arrangements treffen. Aber schauen Sie mal, wie viele Väter tatsächlich ein bis zwei Jahre zuhause bleiben, während ihre Frauen Vollzeit arbeiten: Die kann man mit der Lupe suchen.

In anderen Kulturen sehe ich auf der Straße oft sehr viel mehr Partizipation von Vätern. In Südamerika, etwa in Brasilien und Chile, ist mir häufig aufgefallen, dass Väter sich deutlich mehr engagieren als bei uns. Sie tragen die Kinder herum, trösten sie, wenn sie weinen. Ich war jetzt auch lange Zeit in Israel, wo es viele ultraorthodoxe Familien mit sehr vielen Kindern gibt, und da sind die Väter auch sehr involviert, sie schieben Kinderwägen, betreuen die Kinder nachmittags.

In vielen Teilen der Welt ist Arbeit die tägliche Realität von Kindern. Kann Kinderarbeit ein taugliches Erziehungsmittel sein?
Ich unterscheide sehr stark zwischen häuslicher und außerhäuslicher Tätigkeit, wie das auch meine Kolleginnen und Kollegen aus Brasilien, Indien und anderen betroffenen Ländern tun. Wir sind der Meinung, dass die Teilnahme von Kindern am Haushaltsgeschehen – etwa, dass sie auf dem Bauernhof oder dem Feld mitarbeiten oder dass Kinder die kleinen Kuchen, die die Mutter morgens gebacken hat, auf dem Markt verkaufen – nicht als Kinderarbeit zählt. Das ist Beteilung an der Familienarbeit und kann unter erzieherischen Gesichtspunkten durchaus als wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder betrachtet werden. Etwas anderes ist es natürlich, wenn Kinder Steine auf Baustellen schleppen oder in stinkenden Färbereien als Arbeiter eingesetzt werden. Das ist strikt abzulehnen.

Sie haben in Dutzenden Ländern geforscht: Gibt es etwas, das Eltern auf der ganzen Welt verbindet?
Säuglinge und kleine Kinder ziehen die Aufmerksamkeit und die Fürsorge von Erwachsenen überall auf der Welt auf sich. Mit Kindern in Kontakt zu treten fällt leichter, gerade in Kulturen wie unserer, wo eine soziale Reserviertheit herrscht. In anderen Kulturen geht man generell viel offener aufeinander zu. Wir schaffen das am ehesten über Kinder.

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