Das Zentrum der Lederindustrie von Bangladesch liegt mitten in der Hauptstadt Dhaka. 155 Gerbereien mit mehr als 20.000 fast ausschließlich männlichen Arbeitskräften drängen sich im Stadtviertel Hazaribagh dicht aneinander. Ein Lokalaugenschein von Christian Brüser.
Der wichtigste Tag des Jahres für die Lederindustrie von Bangladesch ist das islamische Opferfest. An diesem Tag werden rund zehn Millionen Kühe und Ziegen geschlachtet. Hazaribagh heißt „Tausend Gärten“. Nichts kann man sich heute in diesem Stadtviertel schwerer vorstellen als Gärten. Es herrscht Verkehrschaos: Lastwägen mit Tonnen von bluttriefenden Tierhäuten verkeilen sich mit Lasten-Fahrrad-Rikschas und Bambuskarren, die mit Hörnern und Kopfhäuten beladen sind und von schwitzenden Männern durch die engen Straßen geschoben werden. In den folgenden Monaten laufen die Gerbereien auf Hochtouren.
In den Straßengräben bahnt sich eine stinkende Brühe aus Abwässern und Blut den Weg zum Fluss. Salzsäcke und Tonnen mit Chemikalien stapeln sich vor den Fabriken.
Vor einer Gerberei stehen drei Dutzend Männer. Sie warten darauf, dass Mohammad Shajahan ihnen sagt, was zu tun ist. „Ich habe diese Leute als Tagelöhner angeworben. Sie laden die Häute ab und salzen sie ein. Sie werden die ganze Nacht hindurch arbeiten und morgen bis zum Abend. Wir bezahlen sie nach Stückzahl.“ 15 bis maximal 30 Euro werden die Männer in der Tasche haben, wenn sie nach der 26-Stunden Schicht todmüde nachhause zurückkehren.
Am Tag nach dem Opferfest. In einer großen, düsteren Halle mit hohen Betonpfeilern salzen vier Männer Kuhhäute ein. Mit bloßen Händen greifen sie in die Säcke und verteilen das Salz in dicken Schichten. Haut für Haut stapeln sie übereinander. Das Salz konserviert die Häute, bis sie in den nächsten Wochen gegerbt werden.
Mohammad Saiful Islam arbeitet seit vielen Jahren in der Gerberei. Er trägt ein Hemd und einen Lungi – ein Hüfttuch. Mit Flipflops stapft er über schwabbelige Kuhhäute und durch Pfützen, einem Gemisch aus Wasser und Chemikalien. Beißender Geruch steigt in die Nase. Mohammad Saiful Islam erklärt die wichtigsten Arbeitsschritte beim Gerben. „Zunächst konservieren wir die Häute mit Salz. Dann kommen sie in diese großen Holztrommeln. Ich gebe sechs bis sieben Chemikalien und Wasser hinzu. Sie bleiben 20 bis 24 Stunden in diesen Trommeln, dabei werden sie gewaschen und die Haare entfernt. Anschließend holen wir sie heraus, um sie von Fett und Fleisch zu befreien. Dann kommen die Häute wieder in eine Trommel, wo die eigentliche Gerbung erfolgt. Wir verwenden dazu Chrom. Am Ende hat man ‚wet blue’. So bezeichnet man feuchtes, chromgegerbtes Leder, das eine bläuliche Farbe hat, aber noch nicht gefärbt wurde. Was hier so seltsam riecht, das sind die Gase von Chemikalien und von verrottendem Fleisch. Man gewöhnt sich daran.“
Viele der Gase sind äußerst giftig, wie etwa der nach faulen Eiern riechende Schwefelwasserstoff. Die Gase können zu Augenbrennen, Hornhautschäden und Atemwegserkrankungen führen. Im oberen Stockwerk der Gerberei sitzen drei Burschen auf dem Boden, 13 oder 14 Jahre alt. Sie schneiden die unbrauchbaren Kanten kleiner Lederstücke ab. Kinderarbeit ist in den Betrieben weit verbreitet.
Vor dem Haus legen einige Arbeiter an einer Teebude eine Pause ein. Mohammad Munir Hussain hat selbst viele Jahre in einer Gerberei gearbeitet. Doch er hat nicht genug verdient, um seine Familie zu ernähren und daher mit der Teebude angefangen. Ihn stört, dass die Gerbereien ihre Abfälle nicht ordentlich entsorgen.
Stinkende Kloaken. Die Freiflächen des Viertels, auf denen Kinder spielen, sind zu Deponien für verfaulende Haut- und Lederreste geworden. Der größte Bach ist zu einer stinkenden Kloake verkommen, die Krankheiten verbreitet und sich ungeklärt in den Hauptfluss von Dhaka, die Buriganga, ergießt. „Die Gerbereien haben alle Fische getötet, und die Menschen sterben auch.“ Außerdem komme es in den Gerbereien ständig zu Unfällen. Eines der Opfer ist Harun ar-Rashid. Er hat an einer der Maschinen einen Arm verloren, er wird in keiner Gerberei mehr arbeiten können. Sein Vorgesetzter hat ihm umgerechnet 130 Euro für die Zeit nach dem Unfall gegeben, aber wie es weiter geht, ist völlig ungewiss. „Ich war nicht angestellt, sondern habe immer nur für bestimmte Aufträge gearbeitet. Ich habe keine Ahnung, ob ich eine Entschädigung bekomme.“
Keine feste Anstellung, keine Arbeitsverträge, keine Versicherung, kein Schutz bei Unfällen oder Krankheit – das ist der Normalfall in den Gerbereien von Hazaribagh. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat für eine Studie mehr als 100 Arbeiter interviewt. Kein einziger hatte einen Arbeitsvertrag.
Selbst wenn kein Unfall passiert, ist die Arbeit in den Gerbereien stark gesundheitsschädigend. Hautkrankheiten sind unter den Arbeitern so weit verbreitet, dass sie kaum noch als solche wahrgenommen werden, berichtet Professor Belal Ahmed vom Dhaka National Medical College. Zweimal pro Woche hat er im Gerberviertel Sprechstunde.
„Fast alle Arbeiter sind krank. Wenn sie nachhause in ihr Dorf fahren, verschwinden oft die Symptome, sobald sie zurückkommen, geht es wieder los.“
Laut einem Bericht von Human Rights Watch überschreiten die Werte vieler Giftstoffe die gesetzlichen Grenzwerte um das Tausendfache. Der Grenzwert für Chrom im Abwasser liegt zum Beispiel bei zwei Milligramm pro Liter, gemessen wurden 4.043 Milligramm, der Wert für Blei übersteigt den Grenzwert sogar um das 20.000-Fache. Außerdem fehlt den Arbeitern das nötige Wissen, um die Gefahren von Salz- oder Schwefelsäure richtig einzuschätzen.
Verantwortung der Käufer. NGOs in Bangladesch weisen seit Jahren auf die Verantwortung hin, die letztlich Firmen aus Europa tragen, wenn sie das Leder günstig in Bangladesch einkaufen. „Die Kunden könnten durchaus Druck ausüben, damit die Fabrikeigentümer die Umweltgesetze beachten.“ Muhammad Hedayetullah, ein Gerberei-Vertreter aus Dhaka, erzählt, er habe etwa für die Marken Hush Puppies, Dockers, Eram oder Bata produziert.
Auf Anfrage weigern sich die Unternehmen jedoch, mitzuteilen, wo ihre Lederwaren hergestellt werden. Da die Europäische Union den Handelshäusern nicht vorschreibt, ihre Lieferketten transparent zu machen, ist es praktisch unmöglich, den Ursprung des Leders zurückzuverfolgen.
Kashef Hoda ist Direktor einer NGO in Dhaka, die sich auf Recherchen im Textil- und Lederbereich spezialisiert hat. „Wenn europäische Unternehmen Leder aus Bangladesch kaufen wollen“, berichtet er, „kontaktieren sie spezialisierte Exporteure.“ Sobald ein Exporteur einen Auftrag hat, engagiert er Fachleute, die die Häute kaufen und die Verarbeitung überwachen. Außerdem mietet er eine Leihgerberei, wo ihm die gesamte Infrastruktur zur Verfügung steht, ebenso wie ein Pool an Arbeitern, die nach Stück bezahlt werden. Wenn das Leder fertig ist, wird es verschifft.
Man kann das Leder später mit keiner Gerberei in Verbindung bringen. Niemand weiß, wie es erzeugt wurde. Ob dabei Kinder mit giftigen Chemikalien hantierten mussten oder ob sie geschlagen wurden. Manchmal werden sie nicht einmal bezahlt. „Es gibt keinerlei Verträge. Niemand war dabei.“ Die Einkäufer, erklärt Kashef Hoda, interessieren sich nicht für die Produktionsbedingungen. „Die gesamten Verhandlungen drehen sich ausschließlich um den Preis. Manchmal entscheidet ein einziger Cent über den Auftrag.“
Gerbereien an den Stadtrand. Seit zwei Jahrzehnten gibt es den Plan, die Gerbereien aus dem Stadtzentrum abzusiedeln, in ein etwa 20 Kilometer entferntes, neu erschlossenes Industriegebiet bei der Stadt Sabhar, am Fluss Daleshwari. Jahrelang herrschte Friedhofsruhe auf dem 80 Hektar großen Gelände mit zentraler Kläranlage. In den letzten Jahren haben einige Gerbereien mit Bauarbeiten begonnen, doch umgezogen sind sie bisher nicht. Nun will die Regierung ernst machen und verbietet ab 1. April 2016, dass frische Kuhhäute ins Gerbereiviertel Hazaribagh geliefert werden. Ob die Gerbereien nun tatsächlich das Stadtzentrum verlassen, ist noch offen.
Christian Brüser ist freier Journalist und Drehbuchautor. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist Südasien, von wo er seit mehr als 20 Jahren berichtet.
Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!
Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.
Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.
Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!
Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.