Sechs Monate den indischen Subkontinent durchqueren. Einen Winter, einen Sommer und die Anfänge des Monsuns. Begegnungen mit unterschiedlichen Landschaften, Menschen und ihren Geschichten. Manche Gespräche waren nicht zufällig und geleitet vom Interesse an dem, was sich vordergründig nicht von selbst ergab: indische Frauen, feministische Projekte, intellektuelle Stimmen. Die vielen Interviews und Gespräche werden später den wertvollen Schatz bilden, der die Erinnerung an Indien strukturiert.
Kerala, so sagt man, wäre anders. Ganz anders. Kerala war tropisch und üppiger als alle anderen zuvor gesehenen Teile Indiens. Die Kakerlaken waren größer und die Früchte beinahe monströs.
Die offizielle Rate für Analphabetismus – indische Statistiken sind als Annäherungswerte zu lesen – liegt bei 24% bei Männern, während beinahe die Hälfte der Frauen, 48%, niemals die Möglichkeit hatte, Schreiben und Lesen zu lernen. Die Alphabetisierungsrate der Frauen im südindischen Kerala hingegen liegt zwischen 80% und 90%. Sie ist die höchste in ganz Indien.
Endlich angekommen. Trivandrum, die Haupstadt von Kerala. Oder Thiruvananthapuram, wie die Stadt in Malayalam genannt wird (eine Reaktion auf die kollektive Demütigung durch die Kolonialisierung bestand in der Rück- bzw. Umbenennung anglisierter Städtenamen). Die Frauen tragen Jasminblüten im Haar.
Hier ist es leicht, eine Adresse zu finden. Es gibt ein Amt für Tourismus und es gibt übersichtliche Stadtpläne. Zur Suche braucht es allerdings etwas länger, denn die indischen Karten sind mehrheitlich als symbolische Maßverhältnisse zu lesen. Was von Bedeutung ist, hat am Plan einfach mehr Gewicht. Es war ein heißer und schwüler Tag, die Luftfeuchtigkeit erreichte langsam ihren Höhepunkt. Die ersten Monsunboten hatten das Klima zwischendurch ein wenig abgekühlt.
Aleyamma Vijayan, die in einem Frauenbildungsprojekt arbeitet, erklärte sich sich gerne zu einem Interview bereit. Die überdurchschnittliche Bildung der Menschen in Kerala hat den Bundesstaat zu einer Modellregion werden lassen. Es war leicht, neugierig zu sein. Neugierig auch auf die Frauen in Kerala, von denen schon im Norden erzählt wurde, dass sie besonders selbstbewusst seien. Die – mittlerweile historisch überholte, weil von den Briten im 19. Jahrhundert verbotene – Tradition einiger matrilinearer Systeme (Herleitung der Verwandtschaft über die mütterliche Linie; Anm.) in manchen sehr einflussreichen Hindu-Kasten, so heißt es, übertrug sich wirkungsvoll auf die Frauen Keralas bis heute. Warum sollte das nicht so sein? Das schwarze Haar der Frauen schien noch schöner zu glänzen, der Gang noch würdevoller zu sein als anderswo.
Erst in den südlicheren Teilen Indiens sieht man Frauen, die im öffentlichen Raum arbeiten. Zugegeben, ihr Anteil ist verschwindend gering – vor allem im Vergleich zu der Masse an Frauen, die in der Landwirtschaft arbeiten. Doch es gibt sie: Busschaffnerinnen, Frauen, die in Banken oder öffentlichen Institutionen angestellt sind, Frauen, die streiken.
Der Ventilator wirbelte unablässig, während Aleyamma Vijayan viele Fragen beantwortete und komplexe Erklärungen anbot. Über den Zusammenhang von Frauenbildung und Emanzipation zu sprechen drängte sich geradezu auf. Die Gewissheit, dass Frauenbildung zu weiblicher Freiheit führe, wurde dabei bitter enttäuscht und als ihr Gegenteil formuliert. Frauenbildung schafft Domestizierung – und nicht Emanzipierung. Weibliche Bildung gelangt nicht hinaus in die Welt, sondern führt geradewegs und zielstrebig hinein ins Private. Dort scheint sie fest einzementiert zu sein. Frauenbildung hat sich mit einem neuen (gebildeten) Ehefrauenideal verzahnt, das vor dem Hintergrund des Ineinandergreifens von Tradition und Modernisierung entstanden ist.
Wie beim Seilziehen stehen sich zwei widerstreitende Parteien gegenüber. Auf der einen Seite eine noch immer selbstbewusste indische Tradition, die auf Rituale setzt, ein spaltendes Geschlechterverhältnis, die Moral der Religion, während auf der anderen Seite die Modernisierung mit ihren verlockenden Bildern von sexueller und ökonomischer Freiheit fest am Strang zieht. Die Bruchlinien verlaufen überall. Die Kraft der Einverleibung, die Indien so gerne nachgesagt wird, bewahrheitet sich in der Imitation einer Tradition, die längst nicht mehr ist, was sie einmal war – bei gleichzeitiger Aneignung „westlich-bürgerlicher“ Ideologie. Exemplarisch lässt sich das am Zusammenhang zwischen Frauenbildung und Domestizierung begreifen.
Bildung gehört zum Habitus der indischen Mittel- und Oberschicht. Die indische Mittelschicht bildet ein dünnes Segment von ca. 5 bis 10% zwischen der sehr reichen Oberschicht und der Masse der InderInnen, deren primäre Sorge das Überleben ist.
Der Wunsch nach einem – ökonomisch – besseren Leben, wie er von der indischen Mittel- und Oberschicht zum Vorbild genommen wird, wird symbolisch „gelöst“. In der Bildung von Frauen ist ein Aspekt dieses bürgerlichen Ideals verkörpert. Wer eine gebildete Frau heiratet, hat symbolisch Teil am bürgerlichen Status. Frauenbildung ist also nicht als Praxis einer Selbst-Ermächtigung zu lesen, sondern als symbolisches Kapital, über das nicht die Frauen selbst verfügen. Will eine Frau verheiratet werden, dann muss sie einen gewissen Bildungsgrad haben. Und nicht verheiratet zu sein, nicht über einen Mann definiert zu sein, ist eine gesellschaftliche Schande. Alter, Größe, Gewicht, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Kaste, Horoskop und Bildungsgrad der Braut bestimmen darüber, wie die Verhandlungen über die Mitgiftforderungen seitens der Schwiegerfamilie laufen werden.
Die Praxis der Mitgift ist eines der größten Probleme in Indien. Obwohl vom indischen Parlament bereits 1961 verboten, haben sich Mitgiftforderungen in den letzten Dekaden auf beinahe alle Schichten der Gesellschaft ausgeweitet. Die an die Brautfamilie gestellten Forderungen nehmen sogar tendenziell eher zu als ab.
Mitgift war historisch ein Geschenk, das einer Tochter mitgegeben wurde zum Übertritt in ihr neues Leben als Ehefrau. Es war Praxis nur bei sehr reichen Kasten. Mittlerweile ist diese Gabe zur Forderung verkehrt worden und in alle Segmente der Gesellschaft gesickert. Der auf der Basis der Entwertung von Frauen ausgetragene Kampf um Mitgiftforderungen befriedigt zudem den durch Modernisierung und mit den Mitteln der Globalisierung Einzug haltenden Konsumismus. Fernseher, Kühlschränke, Autos, Schmuck und Gold als Forderungen sind keine Ausnahme. Den Traum, ohne Arbeit an Vermögen zu kommen, bedienen hierzulande Lotterien; in Indien hat das große Los gezogen, wer einen Sohn hat.
Die indische Regierung hat die Rupee-Münzen zur nationalen Identitätsstiftung einerseits und zur Pädagogisierung der Bevölkerung andererseits instrumentalisiert. Die Köpfe von vielen Heiligen und bekannten Politikern zieren so manche Rückseite eines Geldstücks. Verschiedene sozialpolitische oder ökologische Anliegen werden in Bilder übersetzt und für alle lesbar gemacht. Eine dieser Münzen gibt Nachhilfe in Sachen Familienplanung. Die Münze wird vom Schriftzug „Small Family – Happy Family“ umrahmt und zeigt eine Mutter und einen Vater, die zwei Kinder in ihrer Mitte haben: eine Tochter und einen Sohn – so wie das eben sein soll.
In Kerala ist das Zwei-Kind-Familien-Modell verwirklicht. Zusammen mit der höchsten Alphabetisierungsrate verkörpert es die Wunschvorstellungen der indischen Regierungsprogramme. Es sind die Frauen, die über die Anzahl der Kinder bestimmen. Es sind die Frauen, die sich in die ihnen zugeschriebene Rolle als (gebildete) Hausfrau und Mutter einfügen und dieses Rollenverständnis ihren Töchtern weitervererben. Gleichzeitig beginnt das Bildungspotenzial in den Töchtern zu wirken. Rebellisch und stolz erzählen sie von ihren Zukunftsträumen. Ohne Ehemänner. Für ein gerechteres Indien.
Es ist eine Frage der Zukunft, wohin sich die indischen Gesellschaften bewegen werden, eingekeilt im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Beeindruckend ist jedenfalls die Fähigkeit indischer Frauenprojekte, Konflikte im und am Kollektiv zu lösen. Selbst-Ermächtigung und die Arbeit am Kollektiv gehören zusammen. Das Glück aller ist dabei ein Referenzpunkt, auf den immer verwiesen wird. Es bleibt zu wünschen, dass das Glück der Frauen dabei nicht zu kurz kommt.