Besser unvollkommene Gerechtigkeit als keine

Von Renate Frech · · 1999/12

Friedensschluß: Das ist nicht nur ein Ende. Das ist auch ein Anfang. Wie aber soll dann die weitere Politik aussehen? Ein Kommentar

Friedensschlüsse markieren bis in die Gegenwart nicht nur das Ende eines Krieges oder einer Diktatur, sondern zumeist auch den Schlußstrich unter begangene schwere Menschenrechtsverletzungen, ethnische Säuberungen, Völkermord und Kriegsverbrechen. Es sind gleichzeitig erste Schritte einer zukünftigen Politik, bei denen Rechte und Bedürfnisse der zahlreichen Opfer oft unbeachtet bleiben. In vielen Ländern siegte die „Realpolitik“, und Gerechtigkeit wurde für den inneren Frieden preisgegeben – Amnestiegesetze garantierten Straffreiheit auch für die schlimmsten (Kriegs-)Verbrechen. Dies bedeutete weiters, daß die Bestrafung der Täter, die Wiedergutmachung für die Opfer und die Enthüllung der Wahrheit verhindert wurden, was aber unerläßlich wäre, um einen individuellen und kollektiven Heilungs- und Versöhnungsprozeß einzuleiten.

Die Verdrängung der Vergangenheit birgt eine verhängnisvolle Täuschung in sich. Vergangenheit ist nicht vorbei, nur weil sie verschwiegen und tabuisiert wird. Sie lebt weiter und trägt die Saat für zukünftige Konflikte. Es ist eine Illusion zu glauben, daß Personen und Gruppen, die Opfer von schwersten Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen wurden, dies einfach vergessen und ihre Gefühle, ihre Trauer und ihren Schmerz auslöschen können. Wird ihre Forderung nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung ignoriert, sinkt die Wahrscheinlichkeit, daß sie gewillt sind, mit Tätern und ihren Nachkommen wieder in einer Gemeinschaft zu leben. Gleichzeitig besteht die Gefahr vermehrter persönlicher Racheakte, da Gewalt, die nicht bestraft und nicht bereut wird, kaum verziehen werden kann und oft erneut Gewalt auslöst.

Schwere Menschenrechtsverletzungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Verbrechen der Apartheid gelten als internationale Verbrechen, wodurch primär für den Staat, jedoch in weiterer Folge auch für die internationale Gemeinschaft gewisse Verpflichtungen entstehen, die vor allem die Strafverfolgung von Tätern, die Enthüllung aller Fakten gegenüber den Opfern, ihren Angehörigen und der Gesellschaft und eine entsprechende Wiedergutmachung umfassen.

Was geschieht, wenn ein Staat nicht in der Lage ist, ordentliche Strafverfahren durchzuführen bzw. andere Mechanismen zu etablieren, um die Vergangenheit aufzuarbeiten? Dies ist zum Beispiel in Kambodscha der Fall, wo die schätzungsweise 1,7 Millionen Opfer des Terrorregimes der Roten Khmer noch immer ungesühnt sind. Die Regierung hat die Vereinten Nationen zwar um Hilfe bei der Strafverfolgung der ehemaligen Führer der Roten Khmer gebeten, doch dann ein internationales Strafgericht abgelehnt – dies sei eine Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten.

Die internationale Gemeinschaft trägt unabhängig davon, daß der Prozeß der Versöhnung primär auf nationaler Ebene stattfinden muß, und es von zahlreichen politischen, sozialen und kulturellen Faktoren abhängt, welche Mechanismen hierfür etabliert werden, auch eine Verantwortung dafür, daß schwere Menschenrechtsverletzungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen bestraft werden. Die Schaffung der Ad-Hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda sowie die Verabschiedung des Statuts für einen ständigen internationalen Strafgerichtshof im Juni dieses Jahres in Rom sind erste positive Schritte in diese Richtung.

Parallel zur Internationalisierung der Strafverfolgung von (Kriegs-)Verbrechern sollte auf nationaler Ebene mit positiven Maßnahmen gezielt eine menschenrechtsorientierte Politik gefördert werden, wobei der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen, eine Stärkung der Zivilgesellschaft und die Unterstützung der Opfer besonders wichtig sind. Die internationale Gemeinschaft muß sich dabei jedoch auf allen politischen und wirtschaftlichen Ebenen von Dialogpartnern und Politikern, die für schwere Menschenrechts-verletzungen verantwortlich sind, distanzieren und gleichzeitig verstärkt auf lokaler und regionaler Ebene wirken, um damit die Basis der zivilen Gesellschaft zu stärken.

Die Partizipation von Opfern muß gewährleistet werden, da sie von sozialer Ausgrenzung und Verarmung besonders betroffen sind und zumeist auch nach Beendigung der Gewalt strukturell in einer benachteiligten Position verbleiben. So konnte zum Beispiel in der Republik Südafrika durch die Wahrheits- und Versöhnungskommission zwar ein Prozeß der Versöhnung eingeleitet, doch in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht noch nicht das System der Apartheid überwunden werden.

Viele Staaten, die sich in einer Nachkriegs- oder Übergangsperiode von einem diktatorischen zu einem demokratischen Regime befinden, mußten die Erfahrung machen, daß es keinen stabilen Frieden ohne ein Mindestmaß an Gerechtigkeit gibt. Dies ist ein langer und schwieriger Prozeß. Dabei ist jede unvollkommene Gerechtigkeit besser als keine. Das individuelle und kollektive Bewußtsein, daß der Gerechtigkeit genüge getan wird, ist der erste Grundstein für eine effektive Konfliktprävention. Der Blick ist auf die Vergangenheit gerichtet mit dem Ziel, diese nicht zu wiederholen.

Die Autorin ist Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte und hat im Rahmen des European Master’s in Human Rights and Democratization eine Dissertation zu diesem Thema geschrieben.

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