Ruth Manorama ist eine der wenigen feministischen Dalit-Aktivistinnen, die sich konkret und teilweise mit Erfolg dafür einsetzen, dass die gesellschaftliche Diskriminierung der „unberührbaren“ Frauen verringert wird. Letztes Jahr wurde sie für ihr Engagement mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.
Dass man Dalit ist, lässt einen die indische Gesellschaft nie vergessen. Ganz gleich, wie gebildet man ist, welche Arbeit man tut oder welche Stellung man innehat“, sagt Ruth Manorama. Man erlebe bissige Bemerkungen, Bösartigkeiten, subtile und weniger subtile Diskriminierungen, als wären die Dalits minderwertige Menschen und sollten auch stets daran erinnert werden. Ruth Manorama spricht aus eigener Erfahrung, gehört sie doch selbst den Dalits an, den „gebrochenen Menschen“, wie sich politisch bewusste Unberührbare heute nennen, jene Menschen die unter- und außerhalb des Kastensystems stehen und traditionell alle mit Schmutz, Blut und Kot verbundenen Tätigkeiten ausführen müssen. Offiziell wurde die Unberührbarkeit 1950 abgeschafft, tatsächlich wird sie in vielen Formen weiter praktiziert.
Ruth Manorama zählt zu jener kleinen Dalit-Elite, die es zumindest geschafft hat, der Armut sowie den schlimmsten Formen der Diskriminierung zu entkommen. Ihre Eltern waren zum Christentum konvertiert, und die 1952 in Chennai (damals noch Madras) geborene Ruth konnte gute Schulen besuchen und danach ein M.A. in Sozialarbeit an der Universität von Madras erwerben. Ihr Lebensziel hatte sie klar vor Augen: Die Grund- und Menschenrechte, die den Dalits, aber auch anderen diskriminierten Gruppen in der Verfassung und in unzähligen Gesetzen zugesichert wurden, müssen endlich umgesetzt werden. Insbesondere wollte sie sich für Dalit-Frauen einsetzen.
Für ihr seit drei Jahrzehnten ungebrochenes Engagement wurde Ruth Manorama 2006 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Es war kein leichter Weg, den sie in all diesen Jahren der Basisarbeit, der Mobilisierung und des Empowerments von Frauen zurückgelegt hat. Wofür sie mit den Frauen in den städtischen Slums von Bangalore, wo sie seit langem wohnt, gekämpft hat, erzählen viele Lieder der Dalitfrauen. „Wir bauen euch eure schönen Häuser, aber wir selbst leben in Hütten“, heißt es da etwa. Selbst das Recht auf diese Hütten mussten die in Ruth Manoramas Organisation Women’s Voice tätigen Frauen mühsam von den Behörden erstreiten. „Zuallererst geht es oft ums Überleben“, sagt die Aktivistin, „um das Recht der SlumbewohnerInnen auf Wasser, auf Elektrizität, auf Toiletten. Über diese Rechte müssen sie einmal aufgeklärt werden; dann ist es wichtig, dass sie selbst lernen, diese Rechte einzufordern und sie sich zu erkämpfen. Information, Ausbildung, Empowerment sind ganz wichtig.“
Sie selbst ist an zahlreichen Fronten aktiv, unter anderem im Verband der SlumbewohnerInnen des Bundesstaates Karnataka, im National Centre for Labour, einer Dachorganisation für die Rechte von ArbeiterInnen im unorganisierten Sektor, oder im Christian Dalit Liberation Movement. Immer wieder gehört sie Fact-Finding-Missionen an, etwa nach dem Tsunami im Dezember 2004 oder dem Pogrom an Muslimen im nordwestlichen Bundesstaat Gujarat 2002. Armut, soziale, ökonomische und religiöse Diskriminierung, Ausbeutung und Gewalt sind so eng miteinander verbunden, dass sich Ruth Manoramas vielfältiges Engagement von selbst ergibt.
Als 1995 der Nationale Dalitfrauen-Verband (National Federation of Dalit Women, NFDW) gegründet wurde, war Ruth Manorama dabei. Heute ist sie dessen Präsidentin. „Dalitfrauen brauchen ihre eigenen Gruppen“, verwehrt sich Ruth Manorama gegen alle Vorwürfe, die Frauenbewegung spalten zu wollen. „Die meisten Dalitfrauen zählen zu den Allerärmsten im Land. Ihre Sozialindikatoren sind extrem schlecht. Und sie werden Opfer schlimmster Gewalt.“ Für die in den 1970er Jahren entstandene indische Frauenbewegung ist der Dalit-Feminismus, den gebildete und sprachgewaltige Dalit-Frauen wie Ruth Manorama inzwischen verfechten und auch theoretisch zu verankern bemüht sind, unbequem. Denn die Frauenbewegung hat sich weder in ihrer praktischen Arbeit noch in ihren theoretischen Analysen hinreichend des Kastenproblems und der Unberührbarkeit angenommen. „Sie glaubten wohl, sie hätten den Feminismus gepachtet“, sagt Ruth Manorama lachend. Doch Dalit-Frauen wie sie lassen sich nicht mehr das (feministische) Wort verbieten.
Die Autorin ist Indien-Spezialistin und freie Journalistin in Wien.