Beliebtes Stimmvieh

Von Jan Kreisky, Juan Antonio Sánchez · · 2004/11

In Wahlzeiten wie diesen wird die Latino-Community in den USA von den Kandidaten heftig umworben, stellt sie doch bereits ein Achtel der Gesamtbevölkerung dar. Kulturkämpfer Samuel Huntington sieht bereits die Vorherrschaft von englischer Sprache und protestantischen Werten gefährdet.

Im laufenden Präsidentschaftswahlkampf in den USA wurden Latinos mit
Sympathiebekundungen – sogar in spanischer Sprache – überhäuft und aufwändig umworben. Zugleich weisen zahlreiche Publikationen auf die Gefährdung der US-amerikanischen Kultur durch mexikanische ImmigrantInnen hin. Als WählerInnen sind Latinos also sehr wohl gefragt. Die Legitimität ihrer sozialen und kulturellen Interessen wird jedoch nur zu oft in Abrede gestellt.
„El sueño americano es para todos“ („Der amerikanische Traum gilt für alle“) erklärte US-Präsident George W. Bush im Juli dieses Jahres vor der League of United Latin American Citizens (LULAC). Es war dies einer der zahlreichen Wahlkampfauftritte vor der Latino-Community, die die beiden Kandidaten absolvierten. Gerade in wahlentscheidenden Bundesstaaten wie Kalifornien, Texas, Florida oder Arizona können die Stimmen der Latinos ausschlaggebend sein.
Abseits dieser politischen Sonntagsrhetorik setzt die Bush-Administration jedoch ganz andere Taten. Die „AgJOBS“, eine Gesetzesvorlage zur Einwanderungspolitik, wurde ungeachtet der Unterstützung durch 63 von 90 Senatoren von höchster Stelle gestoppt. Dadurch hätten 500.000 illegale GastarbeiterInnen in der Landwirtschaft ihren Status legalisieren können. Nun wird das Gesetz frühestens 2005 im Kongress behandelt. Auch der „DREAM Act“, der jährlich 65.000 StudentInnen aus illegal eingewanderten Familien den Universitäts-Zugang ermöglichen und den Weg zur Staatsbürgerschaft ebnen sollte, wurde immer noch nicht umgesetzt. Wie aus Umfragen hervorgeht, empörte dies die Latino-Wählerschaft ganz besonders.

Latinos, vor allem MexikanerInnen, wählen mehrheitlich traditionell demokratisch. Schon in den 1940er Jahren waren größere Organisationen in Latino-Gemeinden entstanden, die sich für gleiche Bürgerrechte und gegen Diskriminierungen in Justiz, Schulwesen und Arbeitswelt einsetzten. John F. Kennedy erkannte die Bedeutung des Wählerpotenzials der MexikanerInnen und nahm sich ihrer Anliegen an. So konnte er 1960 in Texas durch eine von der mexikanischen Community mitgetragene Kampagne „Viva Kennedy“ die Präsidentschaftswahl für sich entscheiden. Langsame Veränderungen ihrer Lebenssituation und die internationale Studentenbewegung der 1960er Jahre radikalisierten mit der Bewegung der Chicanos – mexikanisch-stämmige BewohnerInnen der USA – auch mexikanische Gemeinden in den USA.
Heute leben geschätzte 38 Millionen Latinos, davon ungefähr 25 Millionen MexikanerInnen, in den USA. Vom südlichen Ufer des Rio Grande aus betrachtet, bedeutet das: Ein Fünftel der mexikanischen Bevölkerung ist in die USA ausgewandert. Angesichts dieser Tendenz platzierte der Politologe und „Kampf der Kulturen“-Autor Samuel P. Huntington ein paar Monate vor den Wahlen sein neuestes Werk „Who Are We?“ auf dem englisch- und spanischsprachigen Buchmarkt. In seinen Thesen tauchen wieder die alten WASP (White Anglo-Saxon Protestant)-Ängste auf. Huntington zeichnet ein Szenario, demnach langfristig die mexikanische Immigration die USA in „zwei Völker, zwei Kulturen und zwei Sprachen“ spalten werde.

Der massive Migrationsstrom aus Mexiko wird gewiss weiter anhalten. Nirgends sonst auf der Welt grenzen ein Dritte-Welt-Land und eines der Ersten Welt mit so großen Einkommensunterschieden so dicht aneinander. Noch nie war die Einwanderung in die USA so dominiert von einer Gruppe mit gleicher Sprache und Kultur, noch nie war sie in diesem Ausmaß illegal und konzentriert auf einzelne Regionen der USA. Keine der vorherigen Gruppen von ImmigrantInnen konnte so leicht Kontakt zu ihrem Ursprungsland halten und gar Ansprüche auf US-Territorium stellen (bekanntlich hatte Mexiko das Gebiet der acht südlichen US-Bundesstaaten ab 1848 durch Kriege und Verkauf an die USA verloren).
Aus diesen Gründen, argumentiert Huntington, würde die Assimilation mexikanischer ImmigrantInnen in die US-Gesellschaft und Kultur erschwert. Die amerikanische Einheit von englischer Sprache und protestantischen Werten sei gefährdet. Eine solche Transformation der Vereinigten Staaten würde unverrückbar sein, es gebe keinen „Americano Dream“. Die Mexikaner in den USA werden am „American Dream“ nur teilhaben können, wenn sie auf Englisch träumen, so die Vision von Samuel Huntington.
Anlässlich der Verleihung eines Ehrentitels in Mexiko kommentierte der prominente mexikanisch-österreichische Historiker Friedrich Katz die aktuelle Welle tendenziöser Publikationen: „Anstatt kulturelle Elemente der Mexikaner zu nützen, die die Kultur der USA bereichern könnten, wird den Migranten, die viel beitragen zum Leben dieses Landes, die mögliche Erlangung voller Bürgerrechte erschwert.“

Die politische und kulturelle Bewegung der Chicanos hatte sich in den 1960er Jahren als Antwort auf Diskriminierungen und Assimilationsdruck in der US-Gesellschaft formiert. Die beleidigende Bezeichnung Chicano für Mexikaner in den USA wurde von den Aktivisten der Bewegung bewusst aufgenommen und zu einem politischen Terminus gewendet. Axel Ramirez, Ex-Direktor des Instituts für Chicano-Studien der UNAM, der Nationaluniversität in der mexikanischen Hauptstadt, bestimmt Chicanos als in den USA geborene oder aufgewachsene Kinder mexikanischer Eltern, die noch kein Konzept einer eigenen Identität entwickelt haben. Axel Ramirez, selbst im US-Bundesstaat New Mexico geboren und ein Veteran der Chicano-Bewegung, stellt fest: „Der Chicano ist weder Mexikaner noch Gringo, er ist ein kulturelles Hybrid, auf der Suche nach eigener Identität. Chicano-sein ist keine Frage eines Adjektivs, sondern eine Denkweise.“
Auf ihrem langen Weg der Identitätsfindung entwickelte die Chicano-Bewegung auch eine eigene kulturelle Produktion. Das Leben in zwei unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften wurde in allen möglichen künstlerischen Formen artikuliert.

Auf der Suche nach der Identität: In den 1960er Jahren versuchte etwa Luis Valdez mit Gründung des Teatro Campesino den Kampf der mexikanischen LandarbeiterInnen im Süden der USA theatralisch zu bearbeiten. Mit dem kommerziellen Erfolg des Stücks „Zoot Suit“ strahlte sein Theater über die Kreise der mexikanischen ImmigrantInnen auf ein breiteres Publikum aus. Er verfilmte Zoot Suit 1981 auch für das Kino.
In dem Stück wird eine Gruppe von Pachucos, Angehörigen einer Sub-Kultur US-mexikanischer Jugendlicher der 1940er Jahre, gekennzeichnet durch provokante Kleidung und ein Sprachgemisch aus Englisch und mexikanischem Spanisch, mit der US-Gesellschaft konfrontiert. Der Held Henry Reyna, wegen Mordes angeklagt und inhaftiert, reflektiert in faustischen Zwiegesprächen mit seinem „Pachuco-Geist“, was er ist und was er glaubt zu sein, seine Wurzeln und Traditionen, seine Sehnsucht, in eine Welt einzutreten, die ihn zurückweist.
Der letzte erfolgreiche Streifen des Chicano-Kinos, „Echte Frauen haben Kurven“ (2002), handelt von der achtzehnjährigen Ana aus einem von MexikanerInnen bewohnten Stadtviertel im Osten von Los Angeles. Sie arbeitet mit ihrer äußerst traditionell denkenden Mutter Carmen in einer Schneiderei. Ana träumt davon, ihr Leben zu ändern und an die Universität zu gehen. Im Laufe dieses Prozesses entdeckt sie, dass ihre Mutter und sie sich nie verstehen werden. Sie bricht alleine nach New York auf.

Obwohl die literarische Produktion der Chicanos sehr breit ist, ist sie selbst in Mexiko wenig bekannt. Gerade vier Übersetzungen brachte das Verlagshaus Conaculta in Mexiko heraus. Der Roman „Chicano“ von Richard Vázquez wurde 1972 ins Spanische übersetzt. „Chicano“ ist eine Familien-Saga, die sich über vier Generationen spannt. In den Wirren der mexikanischen Revolution wandern die Urgroßeltern aus einem idyllischen, aber armen Dorf im Norden Mexikos in die USA aus. Dort finden sie materiellen Wohlstand, doch das Leben in einer feindlich-fremden Umgebung löst menschliche Tragödien aus.
„Nicht alle Mexikaner in den USA sind Chicanos, sondern nur die, die sich ihrer Marginalisierung bewusst sind und versuchen, politische und soziale Strukturen zu ändern, also politisierte Immigranten“, meint Axel Ramirez. Doch die mit der Chicano-Existenz verbundene politische Last und der Impuls, der durch die Präsidentschaftswahl dem Selbstverständnis als Latino oder Hispano gegeben wurde, lässt die Chicano-Bewegung in Agonie geraten, so Ramirez. „Chicano ist kein ethnisches Etikett, sondern ein politisches, während Latino politisch neutral ist“, beklagt Ramirez die Konjunktur der Bezeichnungen Latinos oder Hispanos, die der Kampf um Stimmen bei den US-Wahlen auslöste.

Jan Kreisky lebt seit Februar d.J. in Mexiko, recherchiert über illegale Siedlungen in der Hauptstadt und ist als freier Publizist tätig. Juan Antonio Sánchez ist mexikanischer Schriftsteller mit den Hauptthemen Drogenhandel und Gewalt.

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