Aus Not geborene Strategie

Von Robert Poth · · 2004/06

Der aktuelle wirtschaftliche Aufschwung in Venezuela macht Hoffnung, könnte sich jedoch als Strohfeuer erweisen. Eine politische Entspannung bleibt wohl das Um und Auf einer nachhaltigen Erholung.

Venezuela überwindet seine finanziellen Probleme unabhängig vom IWF, und zwar indem das Gegenteil dessen angewendet wird, was von den wohlbekannten, aber beschränkten IWF-Rezepten empfohlen wird“, erklärte Finanzminister Tobías Nóbrega Ende April – sicher Musik in den Ohren von KritikerInnen des Internationalen Währungsfonds: Kurz zuvor hatte der IWF Caracas dringendst angeraten, das Budget zu stabilisieren und die Verwundbarkeit des Landes gegenüber fallenden Ölpreisen zu verringern.
Tatsächlich hatte die venezolanische Regierung im Februar 2003, nach dem wirtschaftlich verheerenden Streik im staatlichen Erdölunternehmen PDVSA, völlig unorthodox reagiert: Statt den Wechselkurs freizugeben, fixierte sie ihn; statt die Zinsen zu erhöhen, wurden Kapitalverkehrskontrollen eingeführt, und statt zu sparen, versuchte die Regierung nach Möglichkeit, ihre Ausgaben zu erhöhen. Das allgemein – auch vom IWF – erwartete Wachstum für 2004 von acht bis zehn Prozent scheint Nóbrega recht zu geben: Jedenfalls ist die von der Regierung gewählte Strategie zur Bewältigung der Krise nicht gescheitert.
Zweifellos braucht das Land jedes Prozent Wachstum wie einen Bissen Brot. 2002 und 2003 schrumpfte die Wirtschaft infolge der politischen Turbulenzen insgesamt um fast 18%, und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf sank 2003 auf das Niveau von 1955 (siehe Grafik). Die Reallöhne liegen um rund 70 Prozent niedriger als 1975, und die soziale Lage ist dementsprechend. 55 Prozent der arbeitenden Bevölkerung schlagen sich im informellen Sektor durch, und der Anteil der von extremer Armut betroffenen Haushalte wird auf bis zu 40 Prozent geschätzt. Ein einmaliger Wachstumsschub wird daran nichts Wesentliches ändern.

Und ein solcher wird es sein, meint zumindest der IWF, der für 2005 bloß 1,1 Prozent Wachstum erwartet. Leider spricht einiges dafür, dass der Aufschwung tatsächlich nur vorübergehend sein könnte: Er wird nach allgemein geteilter Einschätzung neben dem „Deficit Spending“ (die Staatsausgaben dürften im ersten Quartal 2004 im Jahresabstand real um beinahe 50 Prozent gestiegen sein) im Wesentlichen auf dem hohen Ölpreis beruhen. Der Öl- und Gassektor stellt traditionell 30 bis 40 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes und finanziert – vor allem über Förderabgaben, aber auch über Dividenden der PDVSA – rund 50 Prozent des Staatshaushalts. Mit der aus der Not geborenen Strategie der Regierung hat das alles nur wenig zu tun.
Zweifellos haben die Kapitalverkehrskontrollen die Kapitalflucht eingedämmt. Doch war die für die Devisenvergabe zuständige Behörde (CADIVI) offensichtlich zu knausrig: Laut der regionalen UN-Wirtschaftskommission CEPAL sanken die Einfuhren 2003 um vier Mrd. US-Dollar auf nur mehr 13,7 Mrd. (2001: 23,3 Mrd.). Aufgrund der hohen Importabhängigkeit der venezolanischen Wirtschaft – der private Konsum etwa besteht fast zur Hälfte aus Importprodukten – entstanden Versorgungsengpässe, die zu Preissteigerungen und zur Verschärfung der Rezession beigetragen haben. Gleichzeitig stiegen die Währungsreserven der Zentralbank (BCV) auf einen Rekordstand von derzeit 24 Mrd. Dollar. Diesen Reserven steht aber eine entsprechend höhere Geldmenge in der Landeswährung Bolivar gegenüber, und das bei einem geringeren Angebot an Gütern. Inflation ist das logische Ergebnis: Trotz eines Rückgangs gegenüber 2002 erreichte sie 2003 noch immer 27 Prozent; für dieses Jahr werden offiziell 25 Prozent angepeilt, wobei die Folgen der Abwertung gegenüber dem Dollar im Februar (von 1.600 auf 1.920 Bolivar) bereits eingerechnet sind.

Inflation ist Gift für die Kaufkraft der Löhne und Gehälter. Zwar wurde Anfang Mai beschlossen, den gesetzlichen Mindestlohn in zwei Etappen um 30 Prozent zu erhöhen, doch betrifft diese Erhöhung nur etwa zwei Millionen Menschen im formellen Sektor. Der Rest, insbesondere die Mehrheit im informellen Sektor, hat davon wenig. Offiziell wird versucht, die Inflation mit Preiskontrollen zu bändigen – sie gelten für etwa 50 Prozent der Güter im Verbraucherpreisindex, insbesondere Grundnahrungsmittel. Zu rigorose Kontrollen sind aber mit dem Risiko verbunden, Unternehmen in den Konkurs zu treiben oder Versorgungsengpässe zu erzeugen. Etwa musste der Bäckereiverband im Mai erst die Reduzierung des Brotangebots androhen, um überhaupt Gehör für den Wunsch nach Preisverhandlungen zu finden; über die „richtigen“ Fleischpreise wird sogar im Kabinett diskutiert.
Um die Auswirkungen der Inflation zu mildern, hat die Regierung außerdem vor einem Jahr begonnen, ein Netz staatlicher Billigläden für Lebensmittel (Mercal) aufzubauen; derzeit ist sie dabei, eine ganze Palette von Grundnahrungsmitteln zollfrei zu importieren, um Engpässe zu beseitigen oder Produkte billiger anzubieten.
Wie prekär die Lage tatsächlich ist, zeigt sich jedoch am Kapitalmarkt. Die private Kreditnachfrage ist derart gering, dass Spar- und Kreditzinsen zwar nominell hoch (letztere bei 20 Prozent), aber doch weit unter der Inflationsrate liegen. Selbst langfristig angelegte Gelder verlieren täglich an Wert. Eine solche Situation war im Entwicklungsplan 2001-2007 der Regierung nicht vorgesehen: Dort ist von „ausreichend hohen real positiven Sparzinsen“ die Rede, um nationale Ersparnisse für Investitionen nutzen zu können. Stattdessen versuchen diese Ersparnisse, sich in Dollar zu verwandeln: Am inoffiziellen Markt wird der Dollar mit rund 3.000 Bolivar weit über dem offiziellen Kurs gehandelt.

Die einzige wesentliche Kreditnachfrage kommt derzeit von der Regierung. Im März etwa waren 60 Prozent des Kreditwachstums auf die Nachfrage nach den neu emittierten Dollarschuldtiteln der Regierung zurückzuführen, sagte der Präsident des Banco de Venezuela, Michel Goguikian, Mitte Mai. Der Anteil von Staatsschuldtiteln an den Aktiva des Bankensystems erreichte bereits Ende 2003 nach Angaben des Banco Mercantil rund 60 Prozent.
Hauptgrund der schwachen Investitionsnachfrage ist natürlich die gespannte politische Situation. Um diese Nachfrage auch nur vorübergehend zu ersetzen, müsste die Regierung gewaltige Budgetdefizite in Kauf nehmen. Im Frühjahr hat die Regierung nun eine Alternative ausgemacht, Regierungsausgaben, etwa für Landwirtschaftskredite, ohne Verschuldung zu finanzieren: aus den „überschüssigen“ Zentralbankreserven, die bei Aufrechterhaltung der Kapitalverkehrskontrollen dieses Jahr weiter steigen dürften. In der BCV wird erwartet, dass die Ölexporte im laufenden Jahr zusätzlich fünf bis sieben Mrd. Dollar einbringen werden.
Bekäme die Regierung die gewünschten Dollar geschenkt, müsste sie sie jedoch bei der BCV wieder gegen Bolivar wechseln. Die BCV hätte dann genauso viele Dollar wie zuvor, nur die Menge an Bolivar wäre höher und damit eine weitere Abwertung angezeigt. Bisher hat sich die BCV jedenfalls geweigert, diesem Begehren der Regierung nachzukommen, und stattdessen drei Alternativen vorgeschlagen: Flexibilisierung der Devisenkontrollen (insbesondere mehr Importe) sowie Dotierung des makroökonomischen Stabilisierungsfonds (FEM) und eines (noch zu schaffenden) von der PDVSA verwalteten Entwicklungsfonds im Ausland, aus dem Kapitalgüterimporte für Projekte in den Bereichen Infrastruktur, Landwirtschaft, Gesundheit und Bildung finanziert werden könnten.

Das klingt vernünftig. Dass die Regierung derzeit sämtliche lukrierbaren Mittel über diverse Sozialprogramme und andere Kanäle vor allem zugunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten in die Wirtschaft pumpt, zeichnet sie natürlich gegenüber anderen Regierungen der Region aus. Dazu gehören etwa eigens gegründete Finanzinstitute wie der Banco del Pueblo und der Banco de la Mujer, die Klein- oder Mikrokredite vergeben, oder neue Programme wie „Vuelvan Caras“, das einer Million Menschen Kredit und Beschäftigung verschaffen soll und das ehrgeizige Ziel verfolgt, die Arbeitslosenrate bis Dezember von 15 auf fünf Prozent zu senken.
Die Erfolgsaussichten der neuen Programme sind naturgemäß schwer zu beurteilen. Aber die beiden Mikrokreditbanken litten Ende 2003 an einem eklatant hohen Anteil fauler Kredite – 37 Prozent beim Banco del Pueblo, beim Banco de la Mujer sogar 57 Prozent. Ein Indiz dafür, dass diese Kredite eher als Sozialausgaben zu betrachten sind denn als Investitionen – oder dafür, dass diese Programme an der schlechten Entwicklung der Gesamtwirtschaft scheitern. Der Mangel an Investitionen ist aber ein Problem, das Venezuela schon seit den 1980er Jahren begleitet und einen Hauptgrund für die miserable ökonomische Lage des Landes darstellt. 2003 sanken sie auf einen Tiefststand (siehe Grafik). Ohne nachhaltige politische Entspannung wird sich wohl kein entscheidender Umschwung ergeben.

Basic

Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!

  • 6 Ausgaben pro Jahr als Print-Ausgabe und/oder E-Paper
  • 48 Seiten mit 12-seitigem Themenschwerpunkt pro Ausgabe
  • 12 x "Extrablatt" direkt in Ihr E-Mail-Postfach
  • voller Online-Zugang inkl. Archiv
ab € 25 /Jahr
Abo Abschließen
Förder

Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.

Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

84 /Jahr
Abo Abschließen
Soli

Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!

Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

168 /Jahr
Abo Abschließen