Aus dem Tagebuch einer Beobachterin

Von Sylvia Karl · · 2000/06

Als Augenzeugin im mexikanischen Bundesstaat Chiapas. Der „Krieg niederer Intensität“ in dieser Region stellt eine physische und psychische Bedrohung für die Bevölkerung dar.

„Hier im Dorf leben wir in ständiger Angst. Manchmal kann ich vor Angst nicht mehr schlafen“, erzählt die junge Frau. Sie hatte mich in die kleine Holzhütte, in der sie mit ihrer Familie wohnt, zu Kaffee und „tortillas“ eingeladen. Ich bewundere, wie sie aus der Maismasse unzählige kleine, dünne Scheiben formt, sie auf das Feuer legt, um so für die ganze Familie „tortillas“ zu haben.

Während sie arbeitet, erzählt sie von der schwierigen Situation, in der die indianische Bevölkerung hier lebt. Besonders jene indigenen Gemeinden in Chiapas, die Widerstand gegen die Regierung leisten und die „Nationale Zapatistische Befreiungsarmee“ (EZLN) unterstützen. Ständige Angst vor Militärübergriffen, Armut und Unterdrückung prägen ihr Leben. Sie erzählt auch, wie wichtig es für das ganze Dorf sei, dass BeobachterInnen sie durch ihre bloße Präsenz unterstützen. Einerseits, weil die Hemmschwelle für Militärübergriffe dadurch steigt – ein mexikanischer Menschenrechtsaktivist bezeichnete uns daher als „menschliches Schutzschild“ -, andererseits, weil im Falle eines Militärübergriffes die ganze Welt darüber informiert wird.

Für die mexikanische Regierung, die großen Wert auf ihr internationales Ansehen legt, sind daher MenschenrechtsbeobachterInnen nicht erwünscht.

Der Weg in dieses Dorf war weit. Nicht nur geographisch betrachtet. Alles begann in Wien. Dort hatte ich mich schon längere Zeit mit dem Thema der Menschenrechte beschäftigt, allerdings nur in der Theorie. Die Praxis sollte folgen.

Ich erfuhr von dem Programm zur Entsendung von MenschenrechtsbeobachterInnen nach Chiapas und besuchte dazu einen Informationsabend. Nachher war ich überzeugt, dass es eine sinnvolle und für die dortige Bevölkerung erwünschte und wichtige Arbeit darstellt. Es folgten intensive Vorbereitungsseminare, die mich detailliert über die Geschichte des Konfliktes informierten.

Nach dieser Vorbereitung, ausgestattet mit einem Empfehlungsschreiben, lande ich Monate später gemeinsam mit einem anderen Österreicher in Mexiko-Stadt. Die ersten Tage sind geprägt von Unsicherheit, denn in der einzigen regimekritischen Tageszeitung sind Schlagzeilen über Chiapas zu lesen, die uns sehr beunruhigen. Wir lesen von der Vorbereitung eines Militärschlages gegen indigene Gemeinden, von einer noch stärkeren Militarisierung in den letzten Wochen und von der Belästigung bis hin zur Ausweisung von AusländerInnen durch die Migrationsbehörde.

Nach 17-stündiger Busfahrt kamen wir Tage später in der Stadt San Cristóbal de Las Casas in Chiapas an. Wir nahmen Kontakt mit dem dortigen Menschenrechtszentrum

„Fray Bartolomé de Las Casas“ auf, das 1995 auf Bitte der indigenen Gemeinden einen Appell an die internationale Solidaritätsgemeinschaft zur Entsendung von BeobachterInnen richtete. Seitdem wurden in zahlreichen Dörfern so genannte „campamentos civiles por la paz“ – zivile Friedenscamps – errichtet.

Nach einer zweitägigen Vorbereitung, wo wir über Verhaltensregeln aufgeklärt wurden, so beispielsweise über die absolute Neutralität der BeobachterInnen oder die Notwendigkeit der Befolgung von Anweisungen der DorfbewohnerInnen, werden wir in ein Dorf entsandt.

Mit einer Notlüge im Hinterkopf fahren wir frühmorgens weg. Für den Fall einer Kontrolle sind wir „TouristInnen“ auf dem Weg zu berühmten Maya-Ruinen.

Das Dorf befindet sich bei unserer Ankunft im „Ausnahmezustand“. Zwei Tage lang gehen die Männer nicht zur Arbeit auf die Maisfelder, die Frauen arbeiten nur teilweise in ihren Häusern. Es war nämlich ein Gerücht im Umlauf, dass das Militär in Kürze einmarschieren würde. Das ganze Dorf versammelt sich in der Kirche und dem kleinen Schulgebäude, um Strategien des Widerstandes zu diskutieren.

Die Soldaten aus dem nahe gelegenen Militärcamp starteten zwar keinen Versuch der „Invasion“, das Gerücht erfüllte trotzdem seinen Zweck. Derartige „rumores“ (Gerüchte) sind Teil der Strategie der Regierung. Die Bevölkerung wird in lähmende Angst versetzt, die ihnen die Arbeit zur Selbstversorgung nicht mehr ermöglicht. Wenn man bedenkt, dass die indigenen Gemeinden hauptsächlich von der Landwirtschaft leben, geht die Strategie also voll auf.

Wir werden bei unserer Ankunft herzlich empfangen. Wir lernen auch drei Beobachterinnen aus den USA und Deutschland kennen, die wir nun „ablösen“. Als Quartier für die kommenden Wochen wird uns eine kleine Holzhütte zugewiesen. Später bekommen wir Anweisungen über unsere Aufgaben (Präsenz im Dorf, Dokumentation jeglicher Militärbewegungen) und auch über Dinge, die wir unterlassen sollten (z.B. Geld oder Süßigkeiten verschenken).

Die folgende Zeit ist geprägt von vielen neuen Eindrücken und Erfahrungen. Wir führen lange, interessante Gesprächen mit den Leuten des Dorfes. Sehen ihren Zorn, aber auch ihre Stärke, ihre Würde und ihren Stolz, die sie zu einem derartigen Widerstand gegen den mächtigen Staat befähigt. Sind berührt von der Großzügigkeit und Wärme der Menschen, trotz der schwierigen Situation, in der sie leben. Spüren das Vertrauen und auch die Dankbarkeit, die sie uns entgegenbringen.

Wir sehen aber auch das ca. 500 Meter entfernte Militärcamp am Zufahrtsweg zum Dorf und die dort stationierten Soldaten, die eine besondere Bedrohung für das Dorf ausstrahlen. Das Militärcamp befindet sich strategisch gut geplant am Zufahrtsweg zum Dorf, wo viele, wollen sie zum Markt oder auf ihre Felder, täglich vorbeigehen müssen. Belästigungen durch Kontrollen sind daher an der Tagesordnung. Wir waren hier aufgerufen, allzeit am Eingang des Dorfes, wo die Hütte der BeobachterInnen steht, für das Militär sichtbar zu sein.

Der Abschied von den Menschen im Dorf ist angesichts der ständigen Bedrohung, unter der sie leben, nicht leicht. Auch kommen uns keine neuen BeobachterInnen „ablösen“. Es sind zu viele bedrohte Dörfer und zu wenige internationale BeobachterInnen in Chiapas. Beim Abschied tritt ein Mann mit zwei Bitten an uns heran: „Schickt uns wieder BeobachterInnen zur Unterstützung. Es ist sehr wichtig für uns. Und erzählt von der Situation, in der wir hier leben. Verbreitet die Dinge, die ihr hier gesehen habt, in euren Ländern.“

Die Autorin studiert Ethnologie in Wien und verbrachte einige Wochen in einer indianischen Gemeinde in Chiapas.

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