Basisbewegungen schießen auf dem indischen Subkontinent aus dem Boden; die Zahl ihrer Mitglieder geht manchmal in die Millionen. Mit Gandhi oder Mao als ideologischem Hintergrund kämpfen sie gegen Weltbankprojekte, Tourismusanlagen, Waldsterben, Umweltver
Auf einer Länge von über 50Kilometern ist das Wasser schon gestaut, fast 50 Dörfer sind schon in den Fluten verschwunden. Durch über 30 Großdämme soll das Wasser des Narmada-Flusses gestaut werden. Auch den uralten Siedlungsgebiete der Bhils drohtjetzt die Überflutung.
Diese passen nunmehr ihre traditionellen Riten der aktuellen Situation an. Bei den alljährlichen Holi-Feiern wird jetzt neben den Sorgen des alten Jahres auch regelmäßig ein Damm aus Pappmache verbrannt. Doch so einfach wie die Damm-Imitationen ist dem Projekt in der Realität nicht beizukommen.
INI: Seit über einem Jahrzehnt gehört der Damm zu den ehrgeizigsten Projekten der indischen Regierungen, egal ob diese von der Kongreßpartei oder der hindunationalistischen BJP gestellt werden. Der Widerstand gegen das Narmada-Projekt sorgte Anfang der neunziger Jahre weltweit für Diskussionen über Sinn und Unsinn weiterer Großdamm-Projekte und deren Finanzierung durch Entwicklungshilfegelder. Ein internationales Bündnis von Nichtregierungsorganisationen hatte damals den Protest der indischen DorfbewohnerInnen erfolgreich an die Weltöffentlichkeit getragen: Die Weltbank zog sich aus der Finanzierung des Projekts zurück. Die indische Regierung führte das Dammprojekt nun ohne Weltbankkredite in Eigenregie weiter. Ausländischen Druck brauchten die Verantwortlichen nun nicht mehr zu fürchten.
Doch in Indien hat der Widerstand der Bevölkerung in den letzten Jahren an Intensität erheblich zugenommen. Im ganzen Narmada-Tal und auch an den Nebenarmen des Flusses werden Protestveranstaltungen abgehalten, die total überlaufen sind. Bisheriger Höhepunkt war die Besetzung einer Staudamm-Baustelle durch zwanzigtausend AktivstInnen im Jänner letzten Jahres. Mittlerweile hat sich der Protest nicht nur über das gesamte 1300 km lange Narmada-Tal ausgebreitet. Die politisch Verantwortlichen mußten auch mit Sorge registrieren, daß immer mehr UnterstützerInnen vom gesamten indischen Subkontinent der Anti-Staudamm-Bewegung zu Hilfe eilen.
Sie setzen sich in die unmittelbar von der Überflutung bedrohten Dörfer und warten auf das Wasser. Sie wollen unter keinen Umständen ihren Platz verlassen, verkünden sie und meinen es im wahrsten Sinne des Ortes todernst. Bisher griff in letzter Minute immer die Polizei ein und zerrt die AktivstInnen gewaltsam aus den Häusern, wenn ihnen das Wasser schon bis zum Hals steht. Eher aus politischem Kalkül als aus Humanität. Denn den Tod von DammgegnerInnen kann die Regierung überhaupt nicht brauchen.
Gerade die Todesverachtung aber mobilisiert die UnterstützerInnen im ganzen Land, Menschen wie Anitha und Jacob Vadakenchery. (Siehe auch Kurzmeldung in SWM 9/99 S.13.)
INI: Nachdem das Bündnis gegen das Staudamm-Projekt auseinandergefallen war, hat die internationale Öffentlichkeit den Widerstand lange Zeit kaum mehr wahrgenommen. Das beginnt sich in der letzten Zeit wieder zu ändern. Wir bekommen wieder vermehrt Anfragen aus Indien oder Europa, meint Rhava Shivana von der Weltorganisation gegen Dämme. In seinem kleinem Büro in der Vorstadt von Mumbay (ehemals Bombay) koordiniert er die Aktionen gegen Staudamm-Projekte in ganz Indien.
Alljährlicher Höhepunkt ist der Aktionstag gegen Dämme am 14. März. Menschenketten und Hungerstreiks sind die Hauptaktionsformen des indischen Widerstands; meint Shivana, der nicht zu betonen vergißt, daß dessen Aktionen im Einklang mit Mutter Natur stehen. Mother Earth is in Revolt und Save our sacred land heißen denn auch die Slogans auf den zahlreichen im Büro hängenden Protestplakaten.
Ini = Kein Zweifel, Narmada ist landesweit zum Kristallisationspunkt von Grassroots-Bewegungen geworden, die sich vor allem nach der großen Chemiekatastrophe von Bhopal 1984 in großer Zahl auf dem indischen Subkontinent ausbreiteten. Die meisten sind nur regional aktiv.
Da verhindern im südindischen Bundesstaat Kerala Bäuerinnen und Bauern mit einer Bauplatzbesetzung die Errichtung einer Hotelanlage, mit der die kommunistisch geführte Provinzregierung den Tourismus ankurbeln will.
An einer anderen Stelle harrt ein ganzes Dorf seit Monaten in Baumhäusern aus, um zu verhindern, daß ein Waldstück für ein Industrieprojekt gefällt wird.
Da blockieren südindische Fischer immer wieder die Zugänge zu einer Papierfabrik, weil deren Abwasser den Fluß in eine Kloake verwandelte, in der kein Fisch mehr leben kann. Immer wieder kommt es bei ihren Aktionen zu Konflikten mit der kommunistisch dominierten Gewerkschaft, die die ArbeiterInnen der Papierfabrik gegen rückschrittliche Umweltschützer und Arbeitsplatzvernichter mobilisiert.
INI: Auf den ersten Blick ähneln diese Gruppen in Auftreten und Programmatik den neuen sozialen Bewegungen, die in den achtziger Jahren in Westeuropa und den USA kurzzeitig auf der politischen Bühne auftraten. Doch die Übereinstimmung ist nur oberflächlich, sind doch die indischen Bewegungen sehr stark in der eigenen Geschichte ihres Landes verwurzelt. Sie berufen sich in ihren Aktionen auf den Mann, nach dem selbst in der kleinsten indischen Stadt die Hauptstraße benannt ist und dessen Statue in keinem indischen Stadtzentrum fehlt: auf den Staatsgründer Mahatma Gandhi. Bei nicht wenigen Anhängern geht die Gandhi-Sympathie so weit, daß sie sich äußerlich ihrem Idol so weit wie möglich anzugleichen versuchen.
INI = Solche Äußerlichkeiten hat Veena Surana nicht nötig. Die Parteien führen zwar den Namen Gandhis ständig im Mund, aber schon sein Nachfolger Nehru wollte von seinen Ideen in der Praxis nichts mehr wissen. Surana hat noch mit Gandhi in der Unabhängigkeitsbewegung gekämpft, war dann längere Zeit Mitglied der Kommunistischen Partei, bevor er sich Anfang der achtziger Jahre der bäuerlichen Grassroots-Bewegung in Südindien anschloss.
Der alte Mann lebt in einem kleinen Dorf zwischen Mysore und Bangalore und ist Organisator der Karnataka Rayka Ryota Sangha (KRRS), der Vereinigung der Bauern der Provinz Karnataka. Die 1981 von wenigen Leuten gegründete Organisation zählt heute zehn Million Mitglieder und ist die im Ausland bekannteste Graswurzelbewegung Indiens. Dafür sorgt schon ihr charismatischer Präsident Nanjundaswamy, von seinen Anhängern liebevoll Swamy genannt. Nicht nur ausländischen BesucherInnen fällt seine dominierende Rolle in der KRRS, die für sich absolute Basisdemokratie beansprucht, auf.
Die Konsensfindung in der Organisation läuft von unten nach oben. Wenn es Entscheidungsbedarf gibt, beraten zuerst die Dorfkomitees, dann die Provinzkomitees und zum Schluß das oberste Landeskomitee. Die Delegierten, die für das nächsthöhere Organ bestimmt werden, sind ihrer Basis rechenschaftspflichtig und können jederzeit ausgetauscht werden. Feste Vorstände oder andere Gremien gibt es bei der KRRS nicht, – so skizziert Surana das Modell einer scheinbar idealtypischen Basisdemokratie, benennt aber gleich deren Grenzen: Bei grundlegenden Differenzen werden die unterschiedlichen Positionen ausführlich dargestellt. Kommt es zu keinem Konsens, entscheidet Swamy unter Berücksichtigung aller Argumente. Das letzte Wort hat also im Zweifelsfall der Präsident.
INI: Ganz in der Tradition von Gandhi setzt die KRRS auf Gesetzesübertretungen und zivilen Ungehorsam. Während die Gefährdung von Personen grundsätzlich abgelehnt wird, gehört Gewalt gegen Sachen durchaus zum Repertoire der AktivistInnen. Schon öfter wurden Filialen des Saatgutkonzerns Monsanto demoliert und Versuchsfelder mit genmanipulierten Pflanzen zerstört. Auch MacDonalds-Filialen und Likörshops sind beliebte Anschlagsziele.
Vor allem die KRRS-Frauen brechen häufig Läden auf und verschütten sämtlichen Alkohol. Damit soll verhindert werden, daß die Männer ihre Rupien in Alkohol anlegen und in betrunkenem Zustand ihre Familien terrorisieren. Hinzu kommt noch ein ethischer Grund: In Gandhis Vorstellung einer einfachen Lebensführung steht der völlige Verzicht auf Drogen jeglicher Art an erster Stelle. In einigen Provinzen läßt sich mittlerweile kein Alkoholhändler mehr blicken.
Ini = Doch die Aktionen der KRRS-Frauen lassen sich nicht auf Anti-Alkohol-Kampagnen reduzieren. Seit Jahren mobilisieren sie gegen die frauenverachtende Tradition des Brautgelds und die alljährlich stattfindende Wahl der Miss Universum. Wir protestieren damit gegen ein Frauenbild, das uns vom Westen aufgezwungen wird, meint die Aktivistin Paanalal Shugar. Auch mit den Vorstellungen westlicher Feministinnen können die KRRS-Frauen wenig anfangen.
Der Kampf gegen den ausländischen Einfluß, der sich für sie vor allem in multinationalen Konzernen, Importen von Konsumgütern, aber auch in westlicher Kultur manifestiert, ist ein einigendes Band der indischen Graswurzel-Bewegung. Dabei beruft sie sich auf Gandhis Swadeshi. Nach diesem Konzept einer einfachen Lebensführung im Einklang mit der Natur sollen die Menschen in überschaubaren dörflichen Lebenszusammenhängen wohnen, sich von einheimischen Pflanzen ernähren und selbstgefertigte Kleidung, deren Material selbstverständlich ebenfalls aus Indien kommen soll, tragen.
Das wahre Indien findet sich nicht in den wenigen Städten, sondern in den unzähligen Dörfern – diesen Kernsatz des Swadeshi-Programms hält der KRRS-Organisator Surana nach wie vor für gültig. Auch wenn er zugeben muß, daß ein Großteil der indischen Jugend mehr auf US-amerikanische Markenware als auf heimische Produkte steht, zeigt er sich optimistisch. Wir organisieren mit der Jugend Schulungscamps über Swadeshi. Auf die Dauer werden sich unsere besseren Argumente durchsetzen.
INI: Doch nicht alle politischen Graswurzelgruppen Indiens sind so überzeugte Swadeshi-Anhänger wie Surana und die KRRS, wenn auch viele ihre politischen Überzeugungen mit ein paar Gandhi-Sprüchen aufpeppen. So haben die Kader des All India Peoples Resistance Forum (AIPRF) ihren politischen Background unverkennbar im Maoismus. Sie unterstützen arme Bauern bei Landbesetzungen gegen die Großgrundbesitzer ebenso wie die Dalits im Kampf gegen das indische Kastensystem.
Die Dalits werden oft die Unberührbaren genannt, eine Bezeichnung, die sie vehement als diskriminierend ablehnen. Auch über 50 Jahre nach der indischen Staatsgründung stehen sie noch immer auf der untersten Stufe der indischen Gesellschaft und sind zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt. Sie sind meistens Christen und vertreten eine indische Variante der Theologie der Befreiung, die mit maoistischen Theorieelementen vermengt ist.
Der Staat reagiert auf die Kämpfe der Dalits und das AIPRF vor allem in den ländlichen Regionen mit offener Repression. Bei Landbesetzungen gibt es immer wieder Tote. Zahlreiche politische AktivistInnen sind spurlos verschwunden.
Die politischen Zielsetzungen der Dalits gehen weit über die Programmatik der KRRS hinaus. Zwar wird auch dort die Abschaffung der Kasten gefordert. Aber gleichzeitig beschäftigen auch KRRS-Aktivisten Angehörige niederer Kasten. Man könne die Kasten nicht in einem Tag abschaffen und pflege daher einen pragmatischen Umgang damit, heißt es dann zur Rechtfertigung.
Doch bei allen Unterschieden in der Graswurzelbewegung ist man sich in in der Ablehnung des indischen Parteiensystems einig. Die Dalit-Aktivistin Vanada Phallaga spricht mit ihrer Einschätzung wohl den meisten Grasroots-AktivistInnen aus den Herzen: Im Wahlkampf scheinen die Kandidaten plötzlich zu entdecken, daß es uns auch noch gibt. Doch in Wirklichkeit sind sie es, die uns nicht interessieren. Wir haben an dem ganzen parlamentarischen Theater kein Interesse.
Der Autor lebt als freiberuflicher Journalist in Berlin und nahm kürzlich am PGA-Kongreß in Kerala teil. Im SWM 7-8/99 berichtete er über die Solidaritätskarawane der KRRS durch Europa.
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