Abel Mamani ist ein mächtiger Mann in El Alto. „Unsere Souveränität ist unser Territorium“, sagt der Präsident der Föderation der Nachbarschaftsräte (FEJUVE) selbstbewusst. Nicht ohne Grund. Denn die FEJUVE bestimmt die politische Tagesordnung in Bolivien mit. El Alto, einst räumlicher Ausdruck der Trennung der „Indios“ von den Weißen, ist zum zentralen Ort des gesellschaftlichen Wandels in dem Andenland geworden. Souveränität haben die „Alteños“ in den vergangenen 18 Monaten eindrucksvoll bewiesen. Mit ihren Protestaktionen erreichten sie im Oktober 2003 die Flucht des damaligen Präsidenten Gonzales „Goni“ Sánchez de Lozada aus dem Land. Nun haben sie mit ihrem Widerstand gegen die Privatisierung des Wassers maßgeblich am Rücktrittsgesuch von Gonis Nachfolger, Carlos Mesa, mitgewirkt, das das Parlament jedoch in der zweiten Märzwoche ablehnte.
El Alto – der Name sagt unpoetisch, was die Stadt vor allem anderen auszeichnet: Die buchstäblich Schwindel erregende Höhe. El Alto liegt hoch, sehr hoch, auf mehr als 4.000 Meter über dem Meeresspiegel mitten im kargen und kalten Andenhochland, dem Altiplano, direkt über dem Tal der bolivianischen Hauptstadt La Paz. Der ungleiche Zwilling von La Paz ist eine besondere Art von Boomtown. Einst war El Alto eine unwirtliche Siedlung indigener MigrantInnen vom Land, die vor allem seit den 1980er Jahren nach La Paz kamen, um als Hausangestellte, Taxifahrer, Straßenhändlerinnen und Hilfsarbeiter ein Auskommen zu finden. Mittlerweile ist das ehemalige Armenviertel zwischen 1950 und 2001 von 1.000 auf fast eine Million EinwohnerInnen angewachsen. 1988 löste sich El Alto von La Paz und erhielt eigene Stadtrechte.
Ohne Zweifel hat die heute drittgrößte Stadt Boliviens viel von einer Metropole, und doch passt sie in kein bekanntes Schema urbaner Räume. Das Zentrum namens „La Ceja“ an der großen Hauptstraße, die am Horizont in der grauen, nackten Erde des Altiplano zu verschwinden scheint, beginnt an einem wenig charmanten Autobahnkreuz direkt hinter der Mautstelle, die zugleich markiert, wo La Paz endet und El Alto beginnt. Kein Café, kein Platz, kein Park, ja nicht einmal eine Shoppingmall oder ein Fast-Food-Restaurant laden zum Verweilen ein.
Schotterpisten führen jenseits der Hauptstraße in die Wohnviertel. Niedrige, selten mehr als zweistöckige Gebäude säumen die Avenida, die meisten von ihnen sind unverputzt, viele scheinen seit Jahren auf die Fertigstellung zu warten. In den Ladenlokalen entlang der Avenida befinden sich unzählige Garküchen, Anwaltsklitschen, Gebrauchtwaren- oder Ersatzteillager für Fahrzeuge, landwirtschaftliche Geräte, Waschmaschinen und sanitäre Anlagen. Davor bieten Straßenhändlerinnen, Schuhputzer und evangelikale Seelentröster lautstark ihre Produkte und Dienste an. Wenn nicht gerade Straßenblockaden auf der Tagesordnung stehen, verstopfen Hunderte Kleinbusse die Avenida. Sie bringen die Menschen nach La Paz, in ihre Wohnsiedlungen oder in die angrenzenden Dörfer des Hochlandes.
Nur ein paar Spruchbänder lassen ahnen, dass die Wut der Alteños auf die kreolische politische Elite immer präsent ist: „El Alto geht immer aufrecht, niemals in die Knie.“ Mit einer Total-Blockade von El Alto und La Paz erreichten die Alteños im Oktober 2003 den Sturz von Sanchez de Lozada. Vom 8. Oktober 2003 wird heute als „Karawane des Todes“ gesprochen. Nachdem Straßensperren und Demonstrationen in den ländlichen Regionen des Andenhochlandes bereits vier Wochen angedauert hatten, mobilisierten die Nachbarschaftsgruppen in El Alto zur vollständigen und unbefristeten Blockade der Stadt. Sie besetzten das Treibstofflager, das die gesamte Hauptstadtregion versorgt. Als das Benzin knapp wurde, versuchte das Militär, eine Karawane von Tanklastern nach La Paz durchzubringen. Immer mehr Menschen stellten sich den Soldaten und LKWs in den Weg und blockierten die Zufahrt. Auf Anordnung von Präsident Sánchez de Lozada begann die Armee in die Menge zu schießen. Mehr als 60 Menschen starben bei dem Massaker, Hunderte wurden verletzt. Trotzdem erreichten die Protestierenden schließlich den Rückzug der Soldaten und den Rücktritt des Präsidenten. Entzündet hatten sich die Unruhen an den Plänen der Regierung, den Export von bolivianischem Erdgas über Chile zum Schleuderpreis internationalen Investoren zu überlassen.
Dieses Mal befinden sich die Nachbarschaftsräte von El Alto seit Ende Februar im Streik. Sie haben Blockaden auf den Straßen nach Argentinien, Chile und Peru errichtet und die Mautstelle der Stadtautobahn nach La Paz besetzt. Die Alteños fordern den sofortigen Rückzug des Wasserkonsortiums „Aguas de Illimani“. Dessen Hauptteilhaber ist der französische Konzern „Suez Lyonnaise des Eaux“. Das Konsortium ist seit der Privatisierung 1997 für die Trink- und Abwasserversorgung von El Alto zuständig, wo die meisten Haushalte nicht über Wasseranschlüsse verfügen. Internationale Kreditgeber wie die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank priesen das Projekt der Wasserprivatisierung damals als „Beitrag zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der armen Bevölkerung“. In den ersten fünf Jahren sollten 68 Millionen US-Dollar investiert und 70.000 Haushalte mit Trinkwasser- und Abwasserleitungen versorgt werden. Doch Aguas de Illimani verzichtete entgegen der vertraglichen Vereinbarungen auf einen Ausbau der Infrastruktur und hob die Preispauschalen ab 2001 um bis zu 120 Prozent an. Bereits im Jänner waren 20.000 Alteños deshalb mit Parolen wie „Bolivien ist nicht zu verkaufen“ nach La Paz marschiert, und die FEJUVE hatten eine Zusage von Präsident Mesa erreicht, über eine Auflösung des für 30 Jahre abgeschlossenen Vertrages mit dem Wassermulti zu verhandeln. Daraufhin drohte der Manager von Suez, Antoine Kuhn, der Regierung mit Entschädigungsforderungen. Mesa entschloss sich daraufhin, den Fall auszusitzen.
Doch er hatte die Rechnung ohne die Nachbarschaftsräte gemacht. Während der Blockade der Stadtautobahn kündigte Mamani an, die FEJUVE werde das Parlament besetzen. Doch Präsident Mesa ist schon Anfang des Jahres in Bedrängnis geraten. Damals hatte er angekündigt, die Treibstoffpreise um bis zu 23 Prozent zu erhöhen. Die indigen geprägte Linkspartei „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS), die seit den Kommunalwahlen im vergangenen Dezember die stärkste politische Kraft im Land ist, sowie Gewerkschaften und Kleinbauernorganisationen in allen Teilen des Landes reagierten mit wochenlangen Hungerstreiks, Straßenblockaden und Protestmärschen. Sie forderten die Rücknahme der Preiserhöhung und eine Verstaatlichung der fossilen Energiequellen. Als konkreten Auslöser für sein Rücktrittsgesuch nannte Mesa allerdings den politischen Druck, den Abel Mamani und Evo Morales, der Chef der MAS, gegen ihn aufgebaut hätten. „Ich bin nicht bereit, diese schändliche Komödie gegen mich weiter zu spielen“, klagte der Präsident Mamani und Morales an.
Abel Mamani erklärt die Wut der Alteños auf den Wasserkonzern Suez: „El Alto ist eine Millionenstadt und wir leben im Jahre 2005. Die meisten Wohnviertel haben jedoch weder einen Wasser- noch einen Stromanschluss. Trotzdem verlangen die privaten Anbieter horrende Preispauschalen.“ El Alto hält unter den bolivianischen Großstädten die Negativrekorde, was die Ausstattung mit Infrastruktur wie asphaltierten Straßen, Strom-, Trink- und Abwasserversorgung, medizinischer Betreuung oder mit Schulen betrifft. Offizielle Arbeitslosenzahlen lassen sich für El Alto nicht finden, denn offizielle Arbeitslose gibt es kaum: Etwa 70 Prozent der Werktätigen sind im informellen Sektor tätig, die halboffiziellen oder familiären Arbeitsbeziehungen sind prekär. „Die Stadt El Alto wird bis heute vom Staat behandelt wie ein vergessenes und diskriminiertes indianisches Dorf“, bringt der bolivianische Soziologe Álvaro Garcia Linera die Beziehung zwischen dem Staat und der jüngsten Stadt des Landes auf den Punkt.
Vor diesem Hintergrund sind die „Kriege“ der Alteños gegen den Billig-Export des Gases und den transnationalen Wassergiganten Suez kein Ausdruck von Nationalismus, sondern eine Implosion der rassistischen Ordnung der bolivianischen Gesellschaft. Die Proteste beinhalten neben der Forderung nach der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums vor allem die Forderung nach der Anerkennung der indigenen Mehrheit als Subjekte mit sozialen und politischen Rechten.
Die Sozial- und Stadtentwicklungspolitik der kreolischen Regierungen ignorierte jahrzehntelang die Urbanität El Altos und die Bedürfnisse ihrer BewohnerInnen. Übersehen wurde, dass hier ein neuer sozialer Raum mit enormer politischer Sprengkraft entstand, der die postkoloniale Trennung zwischen Stadt und Land, zwischen indigen und kreolisch, zwischen weißen StaatsbürgerInnen, ihrer Repräsentation in Form etablierter politischer Parteien, und Indigenen, die vom Staat vernachlässigt werden, nicht nur in Frage stellte, sondern de facto auch überwand. El Alto verkörpert neue Konzepte von Urbanität und Bürgerschaft und eine Redefinition des Politischen.
Die französische Anthropologin Virginie Baby-Collin bezeichnet die spezifische Urbanität von El Alto als „Mestizaje“, als ein neues soziales Konzept von Subjekt und Raum jenseits postkolonialer Zuschreibungen an Geschlecht und Rasse. Sinnbild dieser Mestizaje ist eine weibliche Figur: die Frau mit den schwarzen Zöpfen, dem dunklen Männerhut auf dem Kopf und den dicken weiten Röcken. Die „Cholas“, wie sie von den Kreolen verächtlich genannt werden, weil sie so gar nicht in das bürgerliche Frauenbild passen, bestimmen in El Alto nicht nur das Straßenbild, sondern auch die prekäre Ökonomie. Sie sind Besitzerinnen der teuren und begehrten Stände auf den renommierten Märkten, Verwalterinnen des Haushaltseinkommens, Übersetzerinnen zwischen dem Spanischen und den indigenen Sprachen und höchst mobile Pendlerinnen zwischen Stadt und Land.
Fest sind die Beziehungen der BewohnerInnen von El Alto zur „Welt des Landes“. Viele Stadtviertel – Barrios – sind nach den Herkunftsgemeinden im Altiplano benannt. Hier liegt das Geheimnis der Überlebensstrategie: Warentausch, Ämterrotation sowie kollektive Arbeits- und Loyalitätsbeziehungen mit den Dorf der Familie ergeben komplexe Gemeindestrukturen. Die städtischen Nachbarschaftsräte sind eine Fortführung und Modifizierung der indigenen sozialen Organisationsformen und befördern die „informelle“ Urbanisierung. In El Alto entstand eine Parallelstruktur der sozialen Organisation und politischen Repräsentation „von unten“, jenseits der staatlichen Institutionen.
„Die Politiker der offiziellen Stadtregierung von El Alto sehen wir hier nur als Geschäftsführung“, stellt Abel Mamani klar. „Die eigentliche Regierung sind die etwa 600 basisdemokratischen Nachbarschaftsräte. Jeder Hauseigentümer in El Alto ist Mitglied in einem Nachbarschaftsrat. Sie haben hier die Macht. Nicht die traditionellen politischen Parteien, sondern FEJUVE repräsentieren die BürgerInnen und Bürger von El Alto. Deshalb sind wir auch keine politische Organisation, sondern eine Bürgerbewegung.“