Aufbruchstimmung am Rio de la Plata

Von Gerhard Dilger · · 2004/12

Das Mitte-Linksbündnis „Frente Amplio“ erringt die absolute Mehrheit und stellt mit Tabaré Vázquez erstmals den Präsidenten. Uruguay erlebt eine historische Wende. Aus Montevideo berichtet Gerhard Dilger.

31. Oktober, zehn Uhr nachts: Unter ohrenbetäubendem Jubel betritt Tabaré Vázquez den Balkon des „Hotel Presidente“. Begeistert winkt der Spitzenkandidat des Mitte-Linksbündnisses Frente Amplio (FA, Breite Front) seinen AnhängerInnen inmitten eines rot-blau-weißen Fahnenmeeres zu und ruft: „Liebe Uruguayer, feiert, feiert, der Sieg gehört euch“. Zweieinhalb Stunden nach Schließung der Wahllokale steht fest: Bereits im ersten Wahlgang hat die Linke die Präsidenten- und Parlamentswahl mit absoluter Mehrheit für sich entschieden.
Ganz Montevideo scheint in dieser lauen Frühlingsnacht auf den Beinen zu sein. Hunderttausende flanieren über die Avenida 18 de Julio, die Hauptverkehrsachse der Hauptstadt. Viele schultern ihre Frente-Fahnen, andere haben sich das Rot-Blau-Weiß der 17-Gruppen-Allianz auf die Wangen malen lassen. Trillerpfeifen, Feuerwerkskörper und rhythmisches Getrommel untermalen die Szenerie.
„Es ist eine historische Wende, ein Riesenschritt, egal, wie es weitergeht“, sagt Guillermo Rallo. Der 67-Jährige hat eine 12-stündige Busfahrt aus dem brasilianischen Porto Alegre auf sich genommen, um mit seiner Stimme zur ersten Niederlage des konservativen Establishments seit Gründung der Republik beizutragen. Er ist einer von gut 40.000 im Ausland lebenden Uruguayos, die der FA zur Mehrheit von 50,5 Prozent verholfen haben. Gegen Illusionen ist der jetzige Pensionist gefeit, der wegen seiner Aktionen als Tupamaro-Stadtguerillero zwölf Jahre im Gefängnis verbracht hat und sich heute in Brasiliens Arbeiterpartei engagiert: „Die neue Regierung wird sicher weniger schaffen als wir wollen“, sagt er voraus. Dann fügt er schmunzelnd hinzu: „Aber auch mehr, als die Rechte will.“

„20 Jahre habe ich auf diesen Sieg gewartet, und meine Tochter erlebt ihn gleich bei ihrer ersten Wahl“, sagt die 45-jährige Journalistin Alicia de Oliveira mit ein wenig Neid in der Stimme. Die meisten Jüngeren haben sich erst in den letzten Wochen von der Siegesgewissheit der Linken anstecken lassen. Noch mehr als den Sieg der Frente feiern sie den Abschied von der 170-jährigen Zweiparteienherrschaft von Blancos (Weißen) und Colorados (Roten).
Denn auch sie spüren die Ambivalenz, die die letzte Ausgabe der Wochenzeitung „Brecha“ prägte: „Cambia, todo cambia“ („Alles ändert sich“), hieß es nach einem bekannten Lied der argentinischen Sängerin Mercedes Sosa auf der Titelseite. Den meisten Analysen im Blatt war jedoch das Bewusstsein um die engen Spielräume anzumerken, innerhalb derer sich die Reformpolitik der neuen Regierung bewegen wird. „Die Augen auf die Utopie gerichtet, mit den Füßen auf dem Boden der Wirklichkeit“, wendet Tabaré Vázquez diesen Zwiespalt ins Positive. Der 64-jährige Krebsspezialist tritt am 1. März 2005 sein Amt an.
Während sich Noch-Präsident Jorge Batlle innerhalb des Wirtschaftsbündnisses Mercosur als fünfte Kolonne der USA geriert hatte, wird Vázquez in Südamerika die Phalanx fortschrittlicher Staatschefs stärken. In die Regierung will er auch Politiker und Experten aus dem bürgerlichen Lager berufen, besonders aus der Gruppe des „Erneuerers“ Jorge Larrañaga aus der Nationalen Partei, der mit 34,4 Prozent ein respektables Ergebnis erzielte. Der Kandidat von Batlles Colorado-Partei wurde dagegen mit 10,4 Prozent abgestraft.
Anders als der populäre Ex-Tupamaro José „Pepe“ Mujica, dessen FA-Strömung „Bewegung der Volksbeteiligung“ bei den Parlamentswahlen am besten abschnitt, hat Vázquez wenig Volkstümliches an sich. Mit seinem grauen Anzug und Krawatte wirkt er eher wie ein spröder Professor. Seine Lieblingswörter sind Sparsamkeit, Transparenz und Effizienz.

Bevor der neue Präsident nach Ende der Militärdiktatur (1973-1985) in der Sozialistischen Partei aktiv wurde, hatte der Arbeitersohn mit dem indianischen Vornamen als Fußballfunktionär Furore gemacht: Den Club „Progreso“ aus seinem Viertel La Teja im Westen Montevideos führte er als Vereinspräsident zur Meisterschaft. Seit seiner Zeit als Bürgermeister der Hauptstadt Anfang der 1990er Jahre gilt er als kompetenter Macher mit sozialer Ader. 1994 und 1999 war er bei der Präsidentenwahl gescheitert. Nun hoffen die Uruguayos, dass er auch das Geschick hat, den neoliberalen Scherbenhaufen beiseite zu räumen.
Im Wahlkampf erklärte Vázquez ein „Notprogramm“ für die arme Bevölkerung zu seiner obersten Priorität. Für März versprach er eine Erhöhung des monatlichen Mindestlohns, der derzeit nicht einmal 40 Euro beträgt. Neue Jobs will er durch die Wiederbelebung der landwirtschaftlichen Produktion, die Förderung kleiner Betriebe und Investitionen im Bildungswesen schaffen. Dann stehen die Reform des desolaten Gesundheitswesens und eine Rücknahme der Privatisierungen in der Gesundheitsversorgung an, eine Revision des Steuerrechts, die Verbesserung des Arbeitsschutzes und die Unterstützung der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern.
Wie er das allerdings finanzieren will, ließ Vázquez im Wahlkampf nur andeutungsweise durchblicken. Der Presse ging er aus dem Weg, die Finanzmärkte beruhigte er mit der Designierung des gemäßigten FA-Senators Danilo Astori zum Wirtschaftsminister. Der schließt ein Schuldenmoratorium aus und will es der brasilianischen Regierung gleichtun, deren makroökonomischer Sparkurs von liberalen Funktionären in Finanzministerium und Zentralbank bestimmt wird: „Wir müssen versuchen, Markt und Staat zu integrieren. Das tut Lula, und ich glaube, es gibt keinen anderen Weg“, erklärt Astori. Auch die Linke sei in der Lage, die Inflation einzudämmen und den Verpflichtungen gegenüber internationalen Organisationen nachzukommen.

Andere Akzente setzt Mujica, der als zukünftiger Produktionsminister gehandelt wird. Am Wahlabend bekräftigte er: „Wir müssen verhandeln, neu verhandeln und wieder verhandeln, weil wir eine Verschuldung haben, die unbezahlbar ist“. Mit 12,7 Milliarden US-Dollar liegen die Auslandsschulden Uruguays über dem Bruttoinlandsprodukt und fast sechsmal so hoch wie die jährlichen Exporterlöse.
Mit der Abwertung des brasilianischen Real 1999 und vor allem mit dem Staatsbankrott in Argentinien 2001/ 2002 hatte sich die wirtschaftliche Situation des 3,4-Millionen-Staats dramatisch verschlechtert. Heute lebt ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, 60 Prozent sind im informellen Sektor tätig, 100.000 überwiegend Jüngere verließen in den letzten drei Jahren das Land. Seit 1998 hat sich das Bruttoinlandsprodukt (in Dollar) halbiert. „Die soziale Krise ist tiefer als in Argentinien, aber wegen der größeren staatlichen Präsenz ist sie weniger sichtbar“, sagt „Brecha“-Redakteur Raúl Zibechi. Gemeinsam mit Argentinien und Brasilien will die Regierung beim Internationalen Währungsfonds Zugeständnisse erreichen. Vázquez selbst hat sich in dieser Debatte zurückgehalten. Doch in Stil und Programmatik steht er bereits jetzt Brasiliens Lula oder Chiles Ricardo Lagos näher als Néstor Kirchner aus Argentinien oder gar Venezuelas Volkstribun Hugo Chávez.

Gerhard Dilger lebt und arbeitet seit 1999 als freier Journalist in Brasilien. Er ist Korrespondent der Berliner „taz“ und anderer deutschsprachiger Medien.

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