Österreichs renommiertester internationaler Menschenrechtsexperte Manfred Nowak arbeitet an der Verwirklichung eines „Weltgerichtshofes“. Und er ist zuversichtlich, dass dieses utopisch klingende Anliegen gelingt. Das Gespräch mit ihm führte Südwind-Redakteur Werner Hörtner.
Südwind-Magazin: Der Internationale Strafgerichtshof besteht seit nunmehr zehn Jahren. Kann man sagen, dass seine Existenz eine Erfolgsgeschichte ist?
Manfred Nowak: Eine Erfolgsgeschichte würde ich es noch nicht nennen. Aber das hat damit zu tun, dass es am Anfang immer schwierig ist, so eine Institution aufzubauen, dass viele Staaten ihre Kooperation verweigern und dass die Verfahren zu lange dauern. Trotzdem halte ich nach wie vor den Strafgerichtshof für eine der größten juristischen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts. Wir haben damit ein ganz altes Anliegen, nämlich schwerste Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts international zu verfolgen, verwirklicht. Das ist sicherlich eine der besten Möglichkeiten, in Zukunft schwere Verbrechen einschließlich von Völkermord zu verhindern.
Es ist halt leider so, dass im ersten Jahrzehnt die Bush-Regierung eine Art Kreuzzug gegen den Internationalen Strafgerichtshof geführt hat und ihn nicht nur selbst nicht akzeptierte, sondern auch versucht hat, andere Staaten von einer Kooperation abzuhalten. Auch Putin hat klar gemacht, dass eine Ratifizierung für Russland nicht in Frage kommt, und China hat dagegen gestimmt. Das heißt, drei der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates waren von Anfang an Gegner dieser Institution. Auf der anderen Seite haben weit über 100 Staaten das Statut ratifiziert und damit als verbindlich anerkannt. Es gibt auch schon erste Fälle von Menschen, die festgenommen und vor dieses Gericht gestellt wurden. Das geschieht aber alles sehr langsam, und so ist es in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit eine sehr lahme Institution.
Muss der Sicherheitsrat einstimmig Fälle zuweisen?
Nein. Es sind neun Stimmen erforderlich, und keines der ständigen Mitglieder darf ein Veto eingelegt haben.
Ein Kritikpunkt neben der Langsamkeit der Verfahren ist eine gewisse Einseitigkeit, nämlich dass sich der Gerichtshof zu sehr auf Afrika konzentriert.
Diese Kritik erscheint mir nicht angebracht. Es sind ja bis jetzt nur Fälle aus Afrika an den Gerichtshof herangetragen worden. Der erste war Uganda, wo die Regierung Museveni selbst die Situation in Nord-Uganda dem Gerichtshof überantwortet hat. Ähnliches gilt für die DR Kongo und Zentralafrika. Weiters haben wir Sudan, die Elfenbeinküste und Libyen, die der Sicherheitsrat überwiesen hat. Das heißt, man kann eigentlich nicht dem Gerichtshof den Vorwurf machen, dass er sich nur mit afrikanischen Staaten befasst, wenn das deren Regierungen und der Sicherheitsrat selbst tun. Auch dass Laurent Gbagbo, der ehemalige Präsident der Elfenbeinküste, heute in Den Haag einsitzt, ist eine Entscheidung des Sicherheitsrats gewesen. Ähnliches gilt für Charles Taylor, den ehemaligen Präsidenten von Liberia, der in Den Haag vor dem Sondertribunal für Sierra Leone angeklagt ist. Obendrein ist es eben die Realität, dass einige der schwersten Menschenrechtsverletzungen in den letzten Jahren in Afrika vorgekommen sind.
Sie haben die Idee eines Weltgerichtshofes in die Diskussion eingebracht. Ist das eine utopische Wunschvorstellung, oder sehen Sie reale Chancen für eine Verwirklichung dieser Idee?
Ich bin überzeugt davon, dass ich einen Weltgerichtshof für Menschenrechte noch erleben werde. Eigentlich ist es gar nicht rational erklärbar, warum es diesen noch nicht gibt. Der Weltgerichtshof für Menschenrechte greift ja viel weniger in die nationale Souveränität der Staaten ein als der Internationale Strafgerichtshof. Wir haben ja bereits einen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dem alle 47 Europaratsstaaten angehören und wo 800 Millionen Menschen von Lissabon bis Wladiwostok die Möglichkeit haben, sich gegen Verletzungen ihrer Menschenrechte an ein unabhängiges Gericht in Strassburg zu wenden. Die Urteile sind bindend und müssen von den betroffenen Regierungen umgesetzt werden. Dasselbe haben wir im lateinamerikanischen Bereich mit dem Interamerikanischen Gerichtshof mit Sitz in San José, Costa Rica. Seit relativ kurzer Zeit gibt es auch einen Afrikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in Arusha.
Martin Scheinin, ein finnischer Menschenrechtsexperte und ich haben einen australischen Vorschlag aus dem Jahr 1947 aufgegriffen, diesen weiter entwickelt und gemeinsam mit meiner Kollegin Julia Kozma ein Statut für einen Weltgerichtshof für Menschenrechte ausgearbeitet. Es bedarf nur des politischen Willens, diesen Entwurf in den Menschenrechtsrat der UNO einzubringen und zu beschließen. Die Frage ist, ob es eine genügend große Anzahl von Staaten mit Gewicht gibt, die diese Idee gutheißen. Auch die Zivilgesellschaft ist wichtig. Ohne eine starke internationale Koalition von vielen Nichtregierungsorganisationen hätte es wahrscheinlich den Internationalen Strafgerichtshof gar nicht gegeben.
Wenn der Menschenrechtsrat der UNO das Konzept absegnet, dann wäre die Verabschiedung durch die Generalversammlung nur mehr eine Formsache.
Dieser Weltgerichtshof wäre dann auch zuständig für Unternehmen, für internationale Organisationen …
Ja, unser Vorschlag orientiert sich zwar an den Kompetenzen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes, möchte aber dessen Schwachstellen vermeiden. Dazu gehört, dass der Europäische – und auch der Interamerikanische – Gerichtshof im wesentlichen nur über die Verletzung von bürgerlichen politischen Rechten entscheiden kann, während die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte stiefmütterlich behandelt werden. Daher lautet unser Vorschlag: Der Weltgerichtshof soll für alle Menschenrechte gelten.
Manfred Nowak studierte in Wien und New York. Er ist Professor für Internationales Recht und Menschenrechte an der Universität Wien sowie Mitbegründer und seit 1992 wissenschaftlicher Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte. Zwischen 1996 und 2003 war er Richter am Menschenrechtsgerichtshof in Bosnien-Herzegowina und von 2004 bis 2010 UN-Sonderberichterstatter über Folter. Seit Oktober 2012 leitet er einen neu gegründeten interdisziplinären Lehrgang „Master of Arts in Human Rights“ an der Universität Wien.
Weiters haben wir den Eindruck, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu wenig tut für eine wirkliche Wiedergutmachung. In der Regel gewährt er den Opfern nur eine finanzielle Entschädigung. Doch gerade bei schweren Menschenrechtsverletzungen sind die Opfer eher an anderen Dingen interessiert: dass die Täter vor Gericht gebracht werden, dass es eine Entschuldigung gibt, dass ein Folteropfer Rehabilitierung bekommt, dass geraubtes Eigentum zurückgegeben wird usw. Das alles kann der Europäische Gerichtshof nicht anordnen. Deshalb schlagen wir vor, dass der Weltgerichtshof alle Formen der Wiedergutmachung einschließlich legislative Reformen mit bindender Kraft anordnen können soll.
Die dritte große Herausforderung betrifft den nicht-staatlichen Bereich. In der globalen Gesellschaft verletzen auch internationale Organisationen die Menschenrechte, wie die Welthandelsorganisation, die NATO, die Weltbank, auch die UNO selbst. Und ebenso stark oder noch stärker verletzen transnationale Unternehmen die Menschenrechte. Viele Unternehmen akzeptieren bereits eine gewisse menschenrechtliche Verantwortung, aber wenn es dann drauf und dran ankommt, haben die Opfer keine effektive Möglichkeit, entsprechende Klagen vor einer unabhängigen internationalen Instanz einzubringen. Der Weltgerichtshof für Menschenrechte sollte nach unserer Vorstellung auch dafür zuständig sein.
Die Wiener Weltkonferenz für Menschenrechte jährt sich nächstes Jahr zum 20. Mal. Wird es dazu so etwas geben wie Wien + 20?
Diese Konferenz war ein ganz wichtiges Ereignis. Die Wiener Erklärung hat nicht nur das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf geschaffen, sondern sie hat auch die Basis für das gesamte Menschenrechtsprogramm der Vereinten Nationen gelegt. In der Zwischenzeit ist vieles verwirklicht worden. Trotzdem sollten wir Wien + 20 nicht nur zum Feiern, sondern auch als Anlass nehmen, um zu überlegen, wie es mit den Menschenrechten im 21. Jahrhundert weiter gehen soll. Meines Erachtens ist der Arabische Frühling trotz aller Probleme und Rückschläge für die arabische Welt vergleichbar mit dem, was sich 1989 in Europa abgespielt hat, d.h. das Ende einer Ära und eine Revolution, die damals den Realen Sozialismus zu Fall gebracht hat. Auch jetzt ist eine Aufbruchszeit, wo man auf den Ruinen arabischer Diktaturen und den durch den Neoliberalismus verursachten globalen Wirtschafts- und Finanzkrisen eine neue, an den Menschenrechten orientierte Weltordnung errichten könnte. Natürlich ist es bereits zu spät, eine dritte Weltmenschenrechtskonferenz im Jahr 2013 zu organisieren. Aber man könnte Wien + 20 zum Anlass nehmen, um aus den Fehlern der letzten 20 Jahre zu lernen und einen mehr als überfälligen Umdenkprozess einzuleiten.
Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!
Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.
Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.
Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!
Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.