Auf eigene Faust organisiert der Kampfsportler Ronny Kokert Flüchtlingshilfe. 2020 war er mehrmals auf Lesbos. Im Interview erzählt er, was wir von Geflüchteten lernen können und wie sich seine Meinung zu Politik verändert hat.
Sie waren im Februar 2020 zum ersten Mal im Flüchtlingslager Moria. Im September waren Sie nach dem Brand im Lager wieder dort. Wie kam es dazu?
Viele Geflüchtete, die bei meiner Kampfsport-Initiative Freedom Fighters dabei sind, haben mir im Laufe der Zeit ihre Geschichten erzählt. Fast alle sind über Lesbos nach Europa gekommen. Und auf dem Weg fast gestorben: Sie sind etwa auf dem Meer gekentert und konnten sich als Nichtschwimmer nur durch glückliche Zufälle retten – nur um dann in Lagern zu landen, in denen die Lebensbedingungen menschenunwürdig sind.
Das alles ging mir nicht mehr aus dem Kopf, und da habe ich zu Weihnachten 2019 beschlossen hinzufahren, um als Rettungsschwimmer bei der Organisation Open Arms zu helfen. Die hat dann kurz vor meiner Abreise aber ihre Einsätze abgebrochen. Zeitgleich ist die Familie eines Freedom Fighters in Moria angekommen. Also bin ich alleine hin, um Geldspenden zu bringen.
Welche Eindrücke haben Sie gewonnen?
Die Lage war katastrophal. Aber die Herzlichkeit der Menschen, die mich in ihren Zelten empfangen haben als wären wir in einem Vier-Sterne-Hotel, war tief berührend. Der Vater von Ismail, einem Freedom Fighter, hat mir einen Ring seines Vaters geschenkt. Ich habe ihm gesagt, den gebe ich ihm irgendwann zurück, in Wien, wenn er es dann bis zu uns geschafft hat.
Wie kam es zu Ihrem Engagement für Geflüchtete?
Ich habe 2015 eine Kleidersammelaktion für das Flüchtlingslager Traiskirchen organisiert und bin hingefahren, um die Sachen zu verteilen. Dabei bin ich mit vielen jungen Männern ins Gespräch gekommen. Ich habe ihre Ängste und Traumata gespürt. Einiges ist mir, natürlich in anderer Form, bekannt vorgekommen, aus Erlebnissen in meiner Kindheit.
Ich habe gelernt, meine Ängste mithilfe der Kampfkunst zu verarbeiten. Also habe ich ein paar Männern dort angeboten, mit mir zu trainieren.
Wir haben dann schnell gesehen, dass das gut funktioniert. Seither gibt es die Kampfsport-Truppe Freedom Fighters (vgl. Beitrag „Neustart mit Kick“ in Südwind-Magazin 11/2017, Anm.).
Ich begleite viele von ihnen auch abseits des Trainings, anfangs bei der Lehrstellensuche, jetzt in Asylverfahren als Zeuge und als Freund. Ich habe Hochachtung vor jedem Einzelnen und bin stolz darauf, wie sie ihr Leben meistern.
Wie gehen Sie als Kampfsport-Profi selbst mit Angst um?
Ich unterscheide zwei Arten von Angst: Die eine, die einem im Moment befällt – die sehe ich als guten Freund und Energieschub, weil sie mich aktiv macht, um ins Handeln zu kommen, z.B. um mich zu verteidigen. Die andere ist die, die aus Befürchtungen entsteht vor Dingen, die noch gar nicht eingetreten sind. Da hilft mir die Zen-Meditation, die darauf abzielt, im Jetzt zu sein. Da beame ich mich hin, ins Jetzt, in den Moment, entziehe mich so der Zukunftsangst und bleibe handlungsfähig.
Ronny Kokert wurde 1970 in Wien geboren. Als Jugendlicher konnte er sich wegen einer Krankheit zwei Jahre lang kaum bewegen. Er studierte in der Zeit Bücher über fernöstlichen Kampfsport und Philosophie. Als er seine Bewegungsfähigkeit wiedererlangte, kämpfte er sich zurück und wurde zu einem erfolgreichen Profi-Kampfsportler. Er entwickelte mit Shinergy sein eigenes Konzept: eine Kombination aus Selbstverteidigung und Sport, die vor allem auch auf geistiger Ebene, u.a. mit Meditation, ansetzt. 2002 eröffnete er sein Trainingszentrum.
Daneben arbeitet Kokert als Coach für Unternehmen, schreibt Bücher und Artikel.
2016 gründete er mit Geflüchteten die Kampfsportgruppe Freedom Fighters. Als Team haben sie bereits viele Trophäen bei nationalen und internationalen Wettbewerben erkämpfen können.
Kokert sammelt über die Plattform www.betterplace.me/wirsindoesterreich Spenden, die er selbst hilfsbedürftigen Familien auf Lesbos übergibt.
Wie stehen Sie zu Gewalt?
Gewalt und Aggression sind Ausdruck von Angst. Die Angst um das konstruierte Ich, das im frühkindlichen Alter mit der Abgrenzung vom Du entsteht und somit Teil des Menschseins ist. Um diese Gefühle ins eigene Leben zu integrieren, muss man für sie Raum und Ausdruck finden.
In der Kampfkunst erkennt man den äußeren Gegner als Spiegel der eigenen Widerstände. Und verbeugt sich in Anerkennung und Respekt vor dem anderen. Wer das erfährt, wird friedlich sein.
Sie haben viel persönlichen Kontakt zu geflüchteten Menschen, die hier sowohl sportliche als auch berufliche Erfolge erzielt haben. Was können wir von ihnen lernen?
Viel! Wenn man seine Alltagssorgen neben den ihren sieht, wird einem sehr schnell klar, was wirklich zählt und was ein gutes Leben ausmacht. Ich bewundere ihr Durchhaltevermögen, ihre Hoffnung und das Bewahren ihrer Würde und Empathie, sowie ihre Kooperationsbereitschaft gegenüber anderen.
Natürlich gibt es jene, die das nicht so hinkriegen. Unter den Freedom Fighters sind aber diejenige, die einen Kampf mit Respekt verlieren können und auch bei Erfolgen bescheiden und dankbar bleiben.
Welche Art von Integrationspolitik würden Sie sich wünschen?
Grundsätzlich müsste es vollkommen egal sein, wo die Eltern herkommen, oder ob man aus wirtschaftlichen oder anderen Fluchtgründen herkommt. Viel wichtiger sind doch die Motivation und der Integrationswille.
Es wäre wichtig, dass jede und jeder schnell Zugang zu einem Asylverfahren bekommt und bei einem positiven Bescheid dann unverzüglich anfangen kann, sich durch Arbeit etwas aufzubauen. Und ich denke, dass diejenigen, die das nicht gleich selber schaffen, unterstützt werden sollten. Wir können uns das leisten, davon bin ich auch als Unternehmer überzeugt.
Was erwarten Sie sich in puncto Flüchtlingslager, z.B. auf Lesbos, konkret von der Bundesregierung bzw. von den EU-Institutionen?
Die paar tausend Leute aus überfüllten, menschenunwürdigen Flüchtlingslagern aufzunehmen ist eigentlich weder für Österreich noch für andere EU-Staaten ein Problem. Niemandem würde aufgrund dessen etwas fehlen. Leute verrecken zu lassen anstatt sie zu evakuieren, dafür stehen unser Bundeskanzler und seine Partei, sowie die verantwortlichen EU-Politikerinnen und Politiker.
Nicht zuletzt sollte Österreich aufgrund der eigenen Fluchtgeschichten (Kokert spricht damit u.a. den Holocaust an, Anm.) nicht zögern, anderen zu helfen.
Auf Lesbos versinkt gerade unsere Würde. Und unsere eigene Freiheit. Denn, wenn die Politik Geflüchteten Menschenrechte und Schutz verweigert, welche Gruppe wird dann die nächste sein? Wir müssen laut werden, aufstehen und auf die Straße gehen.
Erkennen Sie im internationalen Vergleich positive Beispiele für den politischen Umgang mit Geflüchteten?
Kanada! So wie dort sollten wir hier Einwanderung als Chance für eine Bereicherung unserer Gesellschaft sehen.
Waren Sie schon immer ein politisch denkender Mensch?
Mir ist es in erster Linie um Grundrechte gegangen, Parteipolitik war mir lange nicht so wichtig. Ich empfand sie als Zirkus der Eitelkeiten, bei dem es wenig um Fachliches geht. Heute sehe ich aber, dass da schon Hebel betätigt und Veränderungen angestoßen werden können. Deswegen ist es wichtig und richtig, sich da aktiv einzubringen – denn nur dagegen sein hilft nichts.
Was braucht jede und jeder Einzelne aus Ihrer Sicht, um ein Zusammenleben in Frieden zu erreichen?
Wir brauchen Hochachtung vor Fremden, nicht bloß Toleranz und Akzeptanz. Denn die implizieren eine selbst ernannte Hierarchie – dass einer entscheidet, wer ok ist. Man sollte das Fremde nicht bewerten, sondern annehmen. Denn wir sind für andere ja auch fremd und wollen nicht deswegen ausgegrenzt werden.
Interview: Christina Schröder
Das Interview wurde online geführt.
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