Armut live

Von Hendrik Schröder · · 2007/02

In der indischen Megastadt Mumbai – früher Bombay – können sich TouristInnen für ein paar Euro durch den größten Slum Asiens führen lassen. Ein letzter Kick auf dem immer tiefer ausgetretenen Pfad des Rucksacktourismus oder lehrreiche Nachhilfestunde für verwöhnte WestlerInnen? Ein Lokalaugenschein in Dharavi von Hendrik Schröder.

Slum Tours – this way“ steht auf dem blauen Blechschild in einer Nebenstraße im Touristenviertel Colaba. Geschäftig drücken sich Autos und Mopeds durch die Hitze, Zeitungsverkäufer, HändlerInnen, Invalide und BettlerInnen bevölkern lautstark den schmalen Gehweg. Der Pfeil auf dem Schild weist auf eine winzige Bürobaracke auf der anderen Straßenseite. Dort sitzt Chris Way unter einem laut schnarrenden Ventilator und wartet auf interessierte TouristInnen. Der Engländer ist Mitbesitzer und Manager der Agentur „Reality Tours and Travels“. Seit wenigen Monaten bietet er neben konventionellen Stadtbesichtigungen auch die geführte Tour durch den Slum. „Wir wollen die Vorurteile über indische Slums aus der Welt räumen“, sagt der 31-Jährige ernst, „viele Leute glauben, dass die Menschen dort den ganzen Tag betrunken vor ihren Hütten im Dreck liegen und nichts tun.“ Dabei würden die meisten der SlumbewohnerInnen arbeiten, es gebe Gerbereien, Töpfereien und viel Recycling. „Wir wollen die positive Seite des Slums zeigen.“
Mittlerweile steht ein halbes Dutzend junger Leute aus Schweden, Kanada, den USA und Österreich aufgekratzt in der glühenden Sonne vor dem Büroverschlag. Ein dicker Geländewagen mit schwarz getönten Scheiben fährt vor und die Gruppe steigt ein. Durch den kollabierenden Vormittagsverkehr quält sich der Wagen über 90 Minuten lang aus dem Zentrum. Im Innern surrt die Klimaanlage. Krishna Pujari, Touristenführer und zweiter Besitzer der Agentur, hockt verbindlich lächelnd auf dem Beifahrersitz. „Über eine Million Menschen leben in Dharavi auf weniger als zwei Quadratkilometern“, sagt er, „bitte versucht, nicht nur ihre Armut zu sehen, achtet darauf, wie kreativ sie sind, um ihr Überleben zu sichern. Und keine Fotos“, fügt er hinzu. Das Fotoverbot ist die einzige verbindliche Regel. Krishna und Chris wollen nicht, dass die geführte Slum-Tour aussieht wie eine Fotosafari.

Je länger der Wagen unterwegs ist, desto aufgeregter werden die TeilnehmerInnen, allesamt zwischen 20 und 30 Jahre alt. Ihre Motive, sich aus der sicheren Hotelwelt hinauszubewegen, ähneln einander: Sehnsucht nach Authentizität, Faszination für die endlose Armut, Neugier. „Ich kann nicht nach Indien fahren und hinterher sagen: Ich hab’s gesehen, wenn ich die ganze Zeit im Touri-Viertel bleibe“, meint Hannes Giefing aus Wien. Der freundliche Maschinenbauer reist mit einem „Round the World Ticket“ und ist erst den zweiten Tag in Indien. 400 Rupien kostet ihn der geführte Einblick in die fremde, arme Welt, ungefähr sechs Euro. Davon behält Reality Tours 20 Prozent, der Rest geht an die NGO Mesco, die sich um die Verbesserung der medizinischen Infrastruktur im Slum kümmert. So kann keiner sagen, die Travel Agency verdiene mit dem Elend anderer ihr Geld. Und die TouristInnen müssen sich nicht fühlen wie Zoobesucher.
Der Geländewagen hält, und auf einmal sieht es ganz anders aus als im übrigen Mumbai. Vor Hannes und den anderen liegt ein Meer aus windschiefen Häuschen und wild zusammengezimmerten Hütten. Plastikabfälle und Kanister stapeln sich auf den Wellblechdächern. Krishna springt aus dem Wagen und eilt voraus, die Gruppe hinterher. Es riecht undefinierbar streng. Nach Müll, Menschen und Schweiß. Über unbefestigte Straßen schlüpfen die Gruppe und ihr Führer in das Labyrinth von Dharavi. Die lehmigen Wege sind aufgeweicht, große Pfützen links und rechts zeugen noch vom Monsun, der in seinen letzten Zügen liegt. Hier und dort lehnen Menschengruppen zwischen gestapelten Säcken und Plastikplanen an den Häuserwänden und starren die TouristInnen ungläubig an. Fast alle tragen kurze Hosen und Sandalen, die Frauen knappe Spaghettiträger-Shirts und Sonnenbrillen. Auffälliger wäre man hier nur nackt.
Krishna bleibt stehen und schart die Gruppe um sich. Er erzählt aus der Geschichte Dharavis, wie man damals Land trocken legte, um aus vorgelagerten Inseln die Stadt Bombay zu machen. Als um 1860 aus den sieben Inseln eine einzige geworden war, lockten die neuen Flächen Zuwanderer aus ganz Indien an, aber die Stadt bot nicht genügend Reichtum für alle. Die ersten Slums entstanden. Heute ist Mumbai die Finanzmetropole des indischen Subkontinents, aber die Slums wachsen. „Es leben hier viele, die schon in Dharavi geboren wurden, aber sie sind stolz darauf, das werdet ihr sehen“, meint Krishna und lotst die TouristInnen in eine Hütte.

Im Halbdunkel kauern Männer in schmutzigen Hemden auf dem nackten Boden und sortieren Kleinstmüll. Jeder hat einen Eimer vor sich. An der Wand hängt ein Transistorradio, in voller Lautstärke sondert es nichts als Störgeräusche ab. Für das westliche Auge und Ohr eine komplett absurde Szene. Entgeistert starren die BesucherInnen auf die Inder am Boden, die Arbeiter verstummen und starren zurück. „Wahnsinn“, raunt der 26-jährige Winston Blackburn aus den USA, „einer reicht den ganzen Müll herunter und wenn sie was sehen, was in ihren Eimer gehört, schmeißen sie es hinein. Es sieht nicht sehr effizient aus, aber vielleicht haben sie ja auch wegen uns aufgehört zu arbeiten.“ Ein paar Schuppen weiter säubern Männer alte Ölfässer mit Kieselsteinen, dahinter stehen Menschen an Werkbänken und produzieren einfache Werkzeuge. Ein ohrenbetäubender Lärm hallt durch den Raum. Trotzdem übersetzt Krishna schreiend, was einer der Arbeiter erzählt, nämlich dass er gerne in Dharavi wohnt, weil er hier Arbeit hat und ein Dach über dem Kopf. Und wie findet er die Touristengruppen, fragt einer. „Gut“, sagt der ölverschmierte Mann, „erzählt zu Hause, wie wir hier leben und arbeiten, alle sollen das wissen.“
Ein paar Straßen weiter, in einer Näherei, hören die TouristInnen Ähnliches. „Wir nähen hier Sachen für die ganze Welt, sogar für Amerika. Das wissen ja die meisten gar nicht“, meint einer der Vorarbeiter, der mutig aus dem stummen Heer von NäherInnen hinaustritt. Und auf Nachfrage eines Besuchers sagt er grinsend: „Natürlich bin ich gerne hier. Daharavi, das ist das Herz von Mumbai.“

Krishna führt die Gruppe tiefer in den Slum hinein. Durch winzige Gassen, über brüchige Betonplatten, die lose über der stinkenden Kanalisation liegen. Ratten flüchten quiekend, nackte Kinder rufen „Hello, Hello“. Plötzlich steht die Gruppe auf einem schmalen Pfad zwischen Lehmhütten. Ein Gewirr aus Kabeln und Leitungen, wild an improvisierte Pfähle gehängt, baumelt über ihren Köpfen. Johlend umringen gut zwei Dutzend indische Jugendliche die Gruppe, zupfen neugierig an der Kleidung der TouristInnen, starren sie aus tiefen schwarzen Augen an. Verunsichert schauen die BesucherInnen nach ihrem Führer. Krishna macht mit barschem Ton den Weg frei. Keine gefährliche Situation, aber die schiere Anzahl der herbeigelaufenen Menschen wirkt beklemmend.
Was wie ein großes Abenteuer begann, geht langsam an die emotionalen Grenzen der Tour-TeilnehmerInnen. Hannes kämpft mit einer Platzangst-Attacke und redet auf den Guide ein, die Tour zu beenden. Erschöpfung löst die Aufgeregtheit in den Gesichtern der Reisegruppe ab. Die beiden jungen Schwedinnen gehen jetzt mit gesenktem Kopf und so schnell wie möglich hinter Krishna her. Zu geballt sind die erschütternden Eindrücke für die beiden Indien-Newcomerinnen. „Das ist ein Kulturschock, es sieht so aus, als ob der Slum niemals aufhört und wir rennen hier herum und schauen die Leute an und wie arm sie sind“, sagt die 22-jährige Maria Lindström, „und dann gehen wir wieder nach Hause in unsere Sicherheit.“ Es ist ihr anzusehen, wie unwohl sie sich jetzt hier fühlt. Zu Hause möchte sie gerne allen erzählen, wie so ein Slum wirklich aussieht, aber jetzt will sie erst mal zum Auto. Die anderen auch.

Auf der Rückfahrt, Schweigen. Still füllen die Tour-TeilnehmerInnen den Fragebogen der Agentur aus, geben Punkte, viele Punkte für die Freundlichkeit des Führers und die Attraktivität des Gesehenen. Erst als der Wagen wieder in Colaba hält, findet Hannes Worte für das Erlebte. Er sei sehr bewegt, sagt er, „das ist am Ende eine Supererfahrung, die jeder einmal im Leben gemacht haben sollte“. Gemeinsam verschwinden die jungen Leute im Gehsteiggewusel Colabas und steuern eine Touristenkneipe an. Die erste Runde Bier kommt, mittlerweile können alle wieder lachen. Vor der Kneipe steht ein Sicherheitsmann mit Knüppel und vertreibt die BettlerInnen.

Der Autor ist Politologe, schreibt für deutsche Zeitungen und arbeitet als Hörfunk-Journalist in Berlin.

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