Arm sein heißt wenig Geld haben. Oder etwa nicht? New Internationalist-Redakteurin Nikki van der Gaag hinterfragt die gängigsten Mythen rund um die Armut.
„Wir nennen uns lieber ‚Menschen, die Armut erleben oder ‚Menschen an der Basis`, als daß wir uns als Arme bezeichnen“, erklärt Karen. „Zuallererst sind wir Menschen. Menschen, die eben arm sind. Aber in vielerlei Hinsicht sind wir reich.“
An Großzügigkeit zum Beispiel. Es ist ungewöhnlich, von völlig Fremden so selbstverständlich beherbergt und bewirtet zu werden. Noch dazu, wenn es Menschen sind, die es sich kaum leisten können.
Selbstverständlich geht es um Geld. Gleichzeitig geht es aber auch um gute Wohnbedingungen, um Jobs, Gesundheitsvorsorge, Erziehung, Freizeiteinrichtungen, eine verbesserte Staffelung der Beihilfe, die einen fürs Arbeiten nicht bestraft, um bessere Transportmöglichkeiten, um eine bessere Lebensqualität.
Dann gibt es noch die Dinge, die man sich mit Geld nicht immer kaufen kann: mehr Zeit, einegute Partnerschaft, Rückzugsmöglichkeiten („Arme Menschen verfügen nicht über den Luxus eines Privatlebens; ihre Angelegenheiten sind immer öffentlich“, sagt Karen), Gemeinschaftsgeist und – am wichtigsten von allem – Respekt.
Der Wunsch nach Respekt steht ganz oben auf der Liste all jener, die Armut erfahren. Moraene Roberts, eine weitere Aktivistin und Mitglied der britischen Coalition Against Poverty, berichtet: „Wir hören es ständig, vor allem von den Ärmsten. Das größte Unglück für sie ist nicht der Hunger, die Arbeitslosigkeit oder die Unfähigkeit, lesen zu können. Das größte Unglück ist die Erfahrung, daß man nichts zählt, daß das eigene Leid einfach ignoriert wird. Die Verachtung durch deine Mitmenschen, das ist das Schlimmste.“
Solche nicht greifbaren Erfahrungen sind schwer meßbar oder auch nur zu definieren. Armut selbst wird in unendlichen Parametern diskutiert, definiert und gemessen. Das Entwicklungsprogramm der UNO spricht von „Armut“ als der „Verweigerung von Wahlmöglichkeiten und Chancen, ein erträgliches Leben zu führen“. Die Weltbank definiert „Einkommensarmut“ mit „weniger als einem US-Dollar pro Tag“.
Weiters gibt es „absolute“ Armut – unterhalb einer bestimmten Armutsgrenze – und „relative“ Armut – arm zu sein im Vergleich zu denjenigen im direkten Lebensumfeld.
Seit einiger Zeit verwenden Regierungen auch den Begriff der „sozialen Ausgrenzung“ als Beschreibung dafür, was die Erfahrung von Armut bedeutet.
Auch wenn diese Bezeichnung, wie zu hoffen ist, nicht als Erklärung für fehlende finanzielle Unterstützung mißbraucht wird, so wirft sie dennoch einige Fragen auf: Wenn einige Menschen, Gegenden oder Gemeinden „sozial ausgegrenzt“ sind, wovon sind sie dann ausgegrenzt und wer ist „eingegrenzt“? Oder geht es nur darum, das Wort „arm“ zu vermeiden? Ein Wort, mit dem man in den Entwicklungsländern keine Berührungsängste hat, das aber wegen seines Stigmas von Betroffenen im Westen oft zurückgewiesen wird.
Was Devonport und andere „sozial ausgegrenzte“ Gebiete allerdings am wenigsten benötigen, ist ein weiteres Etikett.
Allen diesen Definitionen ist interessanterweise gemeinsam, daß sie ausschließlich den Zustand der Armen beschreiben. Niemand kommt auf den Gedanken, ähnliches für die Reichen zu versuchen. In unserem Wortschatz existieren weitaus mehr Begriffe für Armut als für Reichtum.
Es sind eben die Armen das „Problem“. Die Betroffenen selbst bestreiten diese allgemein vorherrschende Meinung heftig.
Das andere „Problem“ sind die Geschlechterrollen. Frauen trifft überall auf der Welt die Armut am härtesten, teils wegen ihrer zusätzlichen Verantwortung für den Haushalt und teils deswegen, weil ihnen der Zugang zu Boden, Krediten und Arbeitsplätzen verwehrt bleibt.
Für die Auseinandersetzung mit dem Thema Armut sind Meßgrößen und Begriffsbestimmungen zwar brauchbar, doch bergen sie die Gefahr, von dem abzulenken, was Armut konkret bedeutet: beispielsweise, sich um die nächste Mahlzeit sorgen zu müssen. Armut heißt Hunger, Isolation und Machtlosigkeit. Sie ist eine Vergeudung von Leben, nicht nur für die Betroffenen, sondern für jeden von uns. Armut drückt unbarmherzig nieder, bis keine Hoffnung, kein Ausweg, kein Selbstvertrauen mehr übrig geblieben ist.
Die Statistiken geben auf den ersten Blick Anlaß für Optimismus. Allein in den letzten 50 Jahren ist die Armut stärker gesunken als in den vorangegangenen 500 Jahren zusammen.
Im Laufe dieses Jahrhunderts hat sich die Lebensqualität für 3 bis 4 Milliarden Menschen weltweit substantiell verbessert. Seit 1960 konnte die Kindersterblichkeit in den Entwicklungsländern halbiert, die Unterernährung um mehr als ein Drittel gesenkt werden.
Dennoch verschweigen diese Zahlen, daß die absolute Anzahl der Armen parallel mit der Weltbevölkerung im Ansteigen begriffen ist. Zwischen 1987 und 1993 hat der Anteil all jener mit einem Einkommen unter der Ein-Dollar-pro-Tag-Grenze um 100 Millionen zugenommen.
Mit Beginn des kommenden Jahres werden in Subsahara-Afrika mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb des Existenzminimums leben und die globale Wirtschaftskrise wird für über 1 Mrd. Menschen eine Beschneidung ihres ohnehin schon mageren Lebensstandards mit sich bringen.
Diese Zahlen gelten aber nicht nur für die Dritte Welt. In Osteuropa und in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion hat sich der Anteil der einkommensarmen Bevölkerung zwischen 1988 und 1994 versiebenfacht. In den USA werden derzeit 35,5 Mio. Menschen zu den Armen gerechnet. Andererseits leben von den 225 reichsten Menschen der Welt 147 in den Industrieländern (43 in Asien und 22 in Lateinamerika). Global gesehen wird die Kluft zwischen arm und reich ständig größer – das Vermögen der drei reichsten Leute der Welt übersteigt zusammengenommen das gemeinsame Bruttonationalprodukt der 48 am wenigsten entwickelten Staaten.
Derzeit betragen die Ausgaben zur Bekämpfung der Armut 80 Mrd. US-Dollar jährlich, das ist etwa ein Prozent des globalen Einkommens.
1995 verschlangen allein die weltweiten Rüstungskosten das Zehnfache davon, nämlich 800 Mrd. US-Dollar.
Es geht bei der Armut nicht nur um Ungleichheit, aber gerade diese macht sie so unerträglich.
Die Dringlichkeit, den „Skandal“ der Armut (UNO-Definition) zu behandeln, wird inzwischen auch auf höchster Ebene anerkannt. Armut steht als internationales Anliegen ganz oben. Nachzulesen in Konferenzpapieren, Statements und Resolutionen. Man verfolgt das hochgesteckte Ziel, die Zahl jener Menschen, die in extremer Armut leben, bis 2015 zu halbieren.
Das neue Zauberwort dabei heißt Partizipation. Überall ist derzeit die Rede davon, die Armen selbst in die Debatten einzubeziehen. Es bleibt abzuwarten, ob der Schritt von der Theorie in die Praxis gelingt.
Wenn die Armut tatsächlich ausgerottet werden soll, braucht es mehr als nur Gespräche. Es ist ein gewaltiger Schub in Richtung folgender Ziele notwendig:
* Zugang zu Bildung und Gesundheitsvorsorge für die untersten Einkommensschichten.
* Kürzung aller militärischen Ausgaben und aktive Friedenspolitik.
* Schaffung von Arbeitsplätzen und wirtschaftlichen Ressourcen für arme Menschen.
* Ausrichtung auf eine tragfähige Umweltsituation für alle.
* Verringerung der Kluft zwischen den Geschlechtern.
* Entwicklung ländlicher Entwicklungskonzepte zugunsten der armen Bevölkerung, z. B. Bodenreformen.
* Eindämmung von Korruption.
* Schuldenstreichung.
* Erhöhung der Mittel für Entwicklungshilfe.
Viele der Betroffenen fügen noch einen – noch radikaleren Punkt – hinzu. Es fällt auf, daß Menschen in Armut aus den verschiedensten Teilen der Welt nicht so sehr über die Ungleichheit klagen als vielmehr über die Art und Weise, wie Geld zum Maß aller Dinge geworden ist.
In Südindien, Tausende Kilometer von Devonport entfernt, lebt mitten im Urwald eine Gruppe von Stammesangehörigen, die von den Indern als die Ärmsten der Armen, als die Untersten der Unteren angesehen wird.
Sie wollen das Thema Armut nicht nur auf Geld beschränken. „Es geht darum, was du wert bist“, sagt Bomman, einer von ihnen. „Wenn alles nur in Geld gemessen wird, dann sind es diejenigen, die Geld haben, zu denen aufgesehen wird. Wenn wir aber andere Wertmaßstäbe auf die Menschen anwenden, dann sind es die Armen, die reich sind…“
Bommans Worte finden sich in Studien auf Makroebene bestätigt, die zeigen, daß jene Regierungen, die nur auf wirtschaftliches Wachstum setzen, an dem Problem der Armut vorbeizielen.
Die soziale Entwicklungspolitik muß Hand in Hand gehen mit einem sogenannten ‚Pro-Armut‘ – Wachstum. Nur dann beginnen die Armen zu profitieren.
Will man also das hochgesteckte Ziele der Ausrottung der Armut wirklich erreichen, so muß das Augenmerk auf Gerechtigkeit, nicht nur auf dem Bereich der Wirtschaft liegen.
Diejenigen, die Armut erleben, wissen aber auch, daß jede „Hilfe“ – egal ob von Regierungen oder Wohlfahrtsorganisationen – dann am besten wirkt, wenn die, „Empfänger“ in Arbeiterbewegungen, Gewerkschaften oder Frauengruppen organisiert sind. Daher vernetzen sich Arme rund um den Globus und lernen neue Strategien für eine Veränderung. Und allein in der Anzahl der Betroffenen läge ein Potential, das es jederzeit mit dem mächtigsten aller Systeme aufnehmen könnte.
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