In der Arktis brechen neue Zeiten an – aber keine guten. New Internationalist-Redakteurin Jess Worth besucht ein Dorf in Alaska, wo nichts mehr ist wie zuvor und die Menschen buchstäblich den Boden unter den Füßen verlieren.
Bruce Inglangasak lässt seinen Blick fachmännisch über die strahlend weiße Küstenebene gleiten. Er sucht nach Karibus. In der Arktis hat endlich der Frühling begonnen, und die Rentiere kommen langsam wieder von den Bergen herunter. Der Enthusiasmus, mit dem die Iñupiat (Inuit-Gruppe, Anm. d. Red.) hier in Kaktovik die neue Jahreszeit begrüßen, ist verständlich: Es war ein langer Winter in diesem 300-Seelen-Dorf am Rand des Polarmeers, wo die Sonne drei Monate lang nicht aufgeht und die Temperatur regelmäßig bis auf minus 50° Celsius fällt.
Letzte Woche kamen Bruce und zwei andere Männer aus dem Dorf von ihrem ersten erfolgreichen Jagdzug in diesem Jahr zurück. Die Beute: Zwölf Karibus, 90 Fische und ein Elch – frisches Fleisch, eine willkommene Abwechslung, nachdem viele Monate nur das auf dem Speisezettel stand, was letzten Herbst eingelagert wurde. Nun scheint die Sonne, und während wir mit dem Motorschlitten auf die malerische Brookskette zufahren, entdecke ich hier und da Stellen, wo bereits spitzes Tundragras aus dem Schnee hervorlugt.
Endlich bin ich hier im Arctic National Wildlife Refuge, und alles ist genauso atemberaubend wie ich es mir vorgestellt habe: Ein endloses Weiß, wohin das Auge sieht, gleißend in der Sonne wie ein See aus Diamantenstaub. Bei jedem Halt, den wir einlegen, bin ich beeindruckt von der Stille, die hier herrscht, nur unterbrochen von den komischen Rufen der Schneehühner (wie eine Ente, die gurgelt und dann erwürgt wird), dem gelegentlichen Bellen eines Polarfuchses in der Ferne und dem dumpfen Rumoren eines Flusses irgendwo unter dem Eis.
Fast möchte man glauben, es wäre hier immer so. Doch der Schein trügt. Bald wird der Schnee schmelzen, und die Küstenebene wird sich völlig verwandeln. Die Porcupine-Herde, eine der größten frei lebenden Rentierherden Nordamerikas, kommt jedes Jahr hierher, um ihre Jungen auf die Welt zu bringen, und mit ihr kommt auch eine unglaubliche Vielfalt von Pflanzen und Tieren, darunter Grizzlybären, Vielfraße, Muschusochsen und Polarhasen.
„Sie würden ihren Augen nicht trauen“, meint Bruce schmunzelnd, „aber im Sommer sieht es hier aus wie in Afrika!“
Ich will diesen magischen Moment nicht zerstören, den ich in einer der letzten unberührten Gegenden der Welt verbringe, aber es drängt mich dazu, etwas Realität einfließen zu lassen: „Wenn sie die Genehmigung bekommen, hier zu bohren“, frage ich, „wo wird das dann sein?“ Bruce beschreibt mit seiner Hand einen großen Kreis, der alles umschließt, was ich mir eben als amerikanische Serengeti vorgestellt habe. „Überall da“, antwortet er – und es klingt ziemlich nach Resignation, wie er das sagt.
Kaktovik lebt wie auf Messers Schneide. Eine dauerhafte Siedlung gibt es hier zwar erst seit 1923, aber dieses kleine Stück Land vor der Nordküste Alaskas – bekannt als „Barter Island“ – war seit 10.000 Jahren ein Jagdgebiet und Handelsplatz nomadischer Iñupiat. Und die Menschen kommen mit dem rauen Klima hier, 500 Kilometer nördlich des Polarkreises, ganz gut zurecht. Sie pflegen weiterhin zahlreiche Traditionen ihrer Vorfahren, übernehmen aber auch neue Technologien, die das Leben so viel einfacher machen – Motorboote etwa oder Motorschlitten mit GPS-Navigation.
Die indigenen Völker der Arktis haben seit jeher schlechte Erfahrungen mit Regierungen und Unternehmen gemacht, die Ansprüche auf ihren angestammten Lebensraum erheben (siehe Geschichte Seite 34). Kaktovik ist keine Ausnahme. Die Außenwelt machte sich erstmals 1956 in der abgeschiedenen Gemeinschaft bemerkbar, als die im Kalten Krieg herrschende Paranoia die USA und Kanada dazu veranlasste, entlang der Küste des Nordpolarmeeres eine Reihe von Radarstationen zu errichten. Das ganze Dorf musste einer Landebahn weichen, die meisten Häuser wurden von Bulldozern abgerissen.
Ein ernsthaftes Problem hat Kaktovik aber erst seit den 1970er Jahren, als entlang der Küste der North Slope (das Gebiet nördlich der Brookskette bis zur Küste, Anm. d. Red.), enorme Öl- und Gasvorkommen gefunden wurden. Nach einem zähen politischen Ringen wurde ein Schutzgebiet, das Arctic National Wildlife Refuge geschaffen, mit Kaktovik am nördlichen Rand. Das hatte allerdings nicht nur Vorteile. In den letzten Jahren gerieten die Menschen hier jedes Mal gegen ihren Willen ins Rampenlicht von Politik und Medien, wenn die Ölkonzerne und ihre Verbündeten in Washington wieder einmal versuchten, sich Zugang zu den Öl- und Gasvorkommen des Schutzgebiets zu verschaffen. Die hitzig geführten Debatten haben einen Keil in die Gemeinschaft getrieben, und die mögliche Bohrgenehmigung schwebt weiterhin wie ein Damoklesschwert über ihrer Zukunft.
Nun muss sich Kaktovik mit einer noch schrecklicheren Bedrohung auseinandersetzen: mit dem Klimawandel. Die Erwärmung der Erde ist Realität – und überall sichtbar. Als ich mit einem Kleinflugzeug hierherkam (zu den meisten in der Region verstreuten Dörfern gibt es keine Straßenverbindungen), war nur schwer auszumachen, wo das Land endete und das Wasser begann, da das Meer noch zugefroren war wie im Großteil des Jahres. Zumindest war das früher so. Während wir über dem weißen Meer Kreise zogen, bis sich der Nebel, der plötzlich unser Ziel verhüllt hatte, wieder verzog, entdeckte ich lang gezogene Bruchlinien im Eis. Es begann bereits aufzubrechen, und es gab sogar einige eisfreie Stellen.
Bei meiner Ankunft im Dorf erfuhr ich, dass das wieder einmal sehr früh passierte, ein Zeichen der dramatischen Schrumpfung der Eisbedeckung des Nordpolarmeers. Im Sommer vor zwei Jahren sei das Eis erstmals bis 400 Kilometer nördlich des Dorfs weggeschmolzen, und im letzten Jahr sogar 640 Kilometer, erzählte man mir. Die Eisdecke der Arktis schrumpft jedes Jahr um 72.500 Quadratkilometer (etwa die Fläche Österreichs, Anm. d. Red.), und bereits in zehn Jahren und nicht erst in 100, wie noch vor kurzem angenommen, könnte das Eis im Sommer zur Gänze verschwinden.
Am Tag nach unserem Ausflug in die Küstenebene zeigte mir Bruce die Lagune des Dorfs. Wir kletterten auf den Presseisrücken, der sich dort bildet, wo die Wellen der Beaufortsee in die bereits zugefrorene Lagune brechen. Dabei entstehen gewaltige Eisblöcke, die sich im Winter zu einer schroffen Wand auftürmen. Gleichzeitig mit dem Rückzug der Eisdecke, erklärte mir Bruce, würden auch die Stürme im Sommer immer heftiger. Ohne die natürliche Eisbarriere, die sie immer geschützt hat, kommt es auf der Insel zu starker Erosion. In einigen Jahren, sinnierte Bruce, müssten sie vielleicht daran denken, das ganze Dorf in die Berge zu verlegen.
Beim Rückweg vorbei an einigen Holzhäusern fielen mir einige Gerippe von Karibus auf, die verstreut auf dem Schnee lagen. "Ist gerade jemand von der Jagd zurückgekommen?", fragte ich. "Nein", antwortete Bruce. "Die sind vom letzten Jahr." Die Leute hier graben Löcher in den Permafrostboden, um dort Nahrungsmittel für die langen Wintermonate zu lagern – das ist überall in der Arktis üblich. Aber nun taut der Permafrostboden auf, was Unmengen von Kohlendioxid in die Atmosphäre freisetzt. Die Menschen in Kaktovik verlieren ihre natürlichen Kühlschränke und müssen die Nahrungsmittel ausgraben, bevor sie sie brauchen.
"Das wird immer mehr zum Problem für uns", bestätigte Bruce. Die Menschen hier können sich keinen Kühlschrank leisten, der groß genug ist, um Fleisch für sieben Monate einzufrieren. Das zwingt sie dazu, mehr verarbeitete Lebensmittel zu konsumieren, die importiert werden müssen und teuer sind. Das treibt nicht nur die Zahl der Diabetes- und Adipositasfälle in die Höhe; es muss auch mehr Geld verdient werden. Umso verlockender wirken daher die Arbeits- und Einkommensangebote der Ölkonzerne, die an die Ölförderung im Schutzgebiet geknüpft sind.
Auch die Tiere im Reservat sind vom Klimawandel betroffen. Die Migrationsmuster beginnen sich zu verändern: Manche Tiere tauchen zu anderen Zeiten auf, an anderen Orten oder überhaupt nicht mehr. Die Jagd wird dadurch beschwerlicher, und das Gleichgewicht dieses sensiblen Ökosystems wird gestört. Ein Beispiel: Im Winter schneit es nun weniger, stattdessen gibt es öfter gefrierenden Regen. Dadurch bildet sich eine Eisschicht über dem Schnee, auf der sich die Karibus nicht gut bewegen können; sie reduzieren daher die Wegstrecken, die sie täglich zurücklegen. Außerdem überzieht diese Eisschicht auch die Flechten, von denen sie leben, ein weiterer Grund für das besorgniserregende Ausmaß der Unterernährung in der Herde.
Am stärksten betroffen sind aber vielleicht die Eisbären. Die Menschen in Kaktovik jagen Wale, genauso wie die anderen Iñupiat an der arktischen Küste. Jeden September fangen sie zwei oder drei Grönlandwale, die mit allen geteilt werden und die ihnen über den Winter hinweghelfen. Dabei achten sie darauf, den Bestand der Walpopulation nicht zu gefährden. Was von den Walen übrig bleibt, wird auf dem "Knochenfriedhof" am nördlichen Ende der Insel deponiert – gerade zu einer Zeit, in der die Eisbären am hungrigsten sind: Sie haben den ganzen Sommer über ihre Fettreserven aufgebraucht und warten darauf, dass das Meer wieder zufriert, damit sie Ringelrobben, ihr Grundnahrungsmittel, jagen können.
Daraus hat sich eine symbiotische Beziehung zwischen den Menschen von Kaktovik und den größten Landraubtieren der Erde entwickelt. Die Bären kommen von weit her, um sich an den Walresten gütlich zu tun, und spielen oder faulenzen herum, wenn sie genug gefressen haben, ohne sich an den Menschen zu stören, die sie dabei aus der Nähe beobachten. Dieses geschenkte Futter hat sie auch davon abgehalten, in den Dörfern nach Nahrung zu suchen und die Menschen zu gefährden.
Aber das beginnt sich zu ändern. Die Zahl der Eisbären, die jedes Jahr vorbei kommen, ist drastisch gesunken, und die Bären, die es schaffen, sind abgemagert und ausgehungert. Letzten Winter kamen vier Bären in das Dorf und attackierten Hunde. Die Menschen probierten alles aus, um sie zu verscheuchen, aber sie waren einfach zu hungrig und daher zu gefährlich. Schließlich musste man sie erschießen, wenn auch mit großem Widerwillen.
Der Klimawandel erwärmt die Polarregionen sechsmal rascher als den Rest der Erde, und die Auswirkungen beschränken sich natürlich nicht auf Kaktovik. Bevor ich hierher kam, verbrachte ich eine Woche in Anchorage, der größten Stadt Alaskas. Hier fand ein Gipfeltreffen von Delegierten indigener Völker statt, die von überall auf der Welt angereist waren, um über die Bedrohung durch die Erwärmung der Erde zu diskutieren. Die Geschichten aus Grönland, Sibirien, Kanada und dem Norden Skandinaviens, die ich dort hörte, verwoben sich zu einem einheitlichen Bild – alle diese Gemeinschaften sind mit einer tiefen und beunruhigenden Erschütterung ihrer Lebensgrundlagen konfrontiert. Dünneres Eis macht die Fortbewegung und das Fischen schwieriger, gefährlicher und manchmal tödlich. Neue Tiere, Vögel, Pflanzen, Insekten – und Krankheiten – tauchen auf, während arktische Arten ums Überleben kämpfen. Steigende Meeresspiegel bedrohen das Grundwasser. Wohngebäude und Infrastrukturbauten bersten und brechen auseinander, da der Permafrostboden auftaut, auf dem ihre Fundamente stehen. Einige Küstengemeinschaften planen bereits fortzuziehen – eine schmerzliche Notlösung für Menschen, deren Identität so eng mit dem Land verbunden ist, auf dem ihre Vorfahren unzählige Generationen lang gelebt haben.
Während die ursprünglichen Völker der Arktis ums Überleben kämpfen, nimmt unter den vergleichsweise jungen "Nationen", die nun behaupten, die Region zu besitzen, das Gerangel um Souveränitätsrechte zu. Dieses In-Stellung-Gehen hat aber weniger mit Nationalstolz zu tun als mit einer der kolossalsten Ironien des Klimawandels: Das Auftauen der Arktis eröffnet den Zugang zu bedeutenden natürlichen Ressourcen – zu vielleicht einem Viertel der noch unentdeckten Öl- und Gasvorkommen der Welt, enormen Bodenschätzen und reichen Fischgründen. Es gibt sogar einen schwunghaften neuen Elfenbeinhandel, da der auftauende Permafrostboden Mammutstoßzähne freigibt, besonders begehrt von den Neureichen in China. Der Lebensraum indigener Völker, ob zu Land oder auf dem Meer, wird durchkämmt und erforscht wie nie zuvor, von Regierungen und Unternehmen, die sich darauf vorbereiten, das letzte "Niemandsland" zu erobern – ein neuerlicher gedankenloser Übergriff in der Geschichte der kolonialen Landnahme.
Heute ist die Arktis ein Vorbote mit einer Nachricht aus der Zukunft, die zwar unwillkommen sein mag, aber nicht ignoriert werden darf. Denn was in der Arktis passiert, wird auch anderswo geschehen. Der eisige Norden wirkt als weltweiter Thermostat, der die Temperatur der Erde regelt. Pfuscht man daran herum, könnte das Klima aus dem Gleichgewicht geraten, und zwar nicht unbedingt nach und nach – es könnte ganz plötzlich passieren.
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