Ohrenbetäubend tönt Cumbiamusik aus den Lautsprechern. Menschen drängen aneinander vorbei, stehen in Grüppchen. In der Luft Erwartung, Spannung, Ausgelassenheit und der Duft von Paprikawürsten. Mataderos, der Stadtteil der Fleischhauer in Buenos Aires, hat zur Murga geladen. Nicht mehr lange und es geht los. Nervös zupfen sich die Tänzer ihre rot-weißen Seidenfracks zurecht.
Das Plärren der Lautsprecher verstummt. Plötzlich ein Pfiff mit der Trillerpfeife, die ersten „tam tam“ der Bombos und Trommeln. Auf einmal steht keiner mehr still. Ein Schub Richtung Bühne, die Ersten beginnen zu tanzen. Über den Köpfen der Menschen schaukelt der Rey Momo, eine riesige ausgestopfte Puppe. Mühsam bahnt sich sein Träger den Weg durch die Menge. Er macht die Straße frei für die Tänzer. Noch ein Pfiff und der Bann ist gebrochen. Alle springen los. An die hundert rot-weiße Seidenfracks wirbeln herum, Arme und Beine fliegen durch die Luft. Für die Murga Los Mocosos de Liniers hat der Auftritt begonnen.
Seit mehr als zehn Jahren besinnt man sich in Buenos Aires wieder auf diese alte Tradition. Murga, das ist Volksfest, bunter, rhythmischer Protest, ist Satire und grotesker Tanz. Die Murga kommt von ganz unten, war die Flucht der schwarzen HaussklavInnen aus ihrem tristen Dasein. Mit ihren ironischen Gesängen und den pitoresken Bewegungen machten sie sich über ihre Herren lustig. Heute erinnert an diese Ursprünge noch die Verkleidung: die Seidenfracks, die Handschuhe und die Hüte.
Leicht vorgebeugt, die Arme in ruckartigen Bewegungen von sich werfend, suchen die TänzerInnen den Kontakt zum Publikum, animieren. Die Luft brennt. Los Mocosos de Liniers haben den ersten Teil, die Entrada, hinter sich. Paco, der die Fahne mit dem Emblem der Murga schwenkt, hält kurz erschöpft inne. „Die Leute hier haben uns richtig gut willkommen geheißen“, sagt er atemlos. Es ist Ritus, dass sich eine Murga zunächst ankündigt und vorstellt. In Wechselgesängen wird die Stimmung angeheizt, bevor der Hauptteil, ein langes Lied, beginnt. Ein Lied, das alles rauslässt, was den Sänger bewegt, das Alltag und Politik parodiert und heute oft an Galgenhumor grenzt.
Freitag und Samstag ist Probentag für die Mocosos. Dann trifft sich die Murga auf der Plaza de José León Suarez y Martinez de Hoz. Für mehr als 100 Murgueros ist schwer ein Saal zu finden. Und für eine Miete ist ohnehin kein Geld da. In fast allen Stadtbezirken gehören Murgas dadurch zum Straßenbild einfach mit dazu. Schon von weitem sind die tiefen Schläge des Bombos zu hören. Langsam sammelt sich die Truppe. Auch die ersten AnwohnerInnen finden sich schon ein, bleiben mit den Einkaufstaschen einfach stehen. Die Probe ist immer gut für einen Plausch unter Nachbarn. Und wer will, tanzt einfach mit.
Die Murgas sind der Stolz eines jeden Stadtteils. Hunderte von Hinchas, Fans, begleiten ihre Murga immer zu den Auftritten. Denn Murgas sind mehr als ein Fest. Sie wecken kritisches Bewusstsein, fordern soziale Veränderungen. Sie bieten Zusammenhalt und leben von der Solidarität. „In einer Gesellschaft, die dich täglich aufs Härteste angreift, ist die Murga ein Ort, an dem du dich zugehörig fühlst. Sie ist wie eine große Familie“, sagt Coco, der bei den Mocosos tanzt. Genau deshalb brauchen sich Murgas auch nicht um Zulauf zu kümmern. Gerade jetzt, während der schwersten Krise Argentiniens seit 100 Jahren, sind Murgas zum Selbstläufer geworden. Denn, so heißt es unter Murgueros, die Murga hilft dir, glücklich zu sein. Sie verbindet dich mit der Hoffnung.
Dicht liegt der Rauch vom Holzkohlengrill über den Tanzenden. Auch wenn Mitternacht längst vorbei ist, strömen noch immer Leute aus den umliegenden Häusern zum Fest. Das tam tam der Bombos wird lauter, schneller, heftiger, der Tanz ekstatisch. Arme und Beine verrenken sich in wilden Sprüngen in der Luft, als wolle der Murguero alles aus sich herausschütteln. „Der Tanz will gegen alles Institutionalisierte verstossen“, schreibt Lidia Barone über die Murga. Immer wieder begleitet zustimmendes Lachen aus dem Publikum die Stimme des Sängers vorne auf der Bühne. Das Lied der Mocosos spricht an, was viele hier in Mataderos, einem der ärmsten Bezirke von Buenos Aires, empfinden. „Es ist die Ära des Shopping, des Lifting und des Loft / Und sie sprechen von Freiheiten zu Zeiten der Rezession / 25% beträgt die Arbeitslosigkeit / falls einer das nicht versteht / von zehn sind fast drei ohne Job.“ „Sie lügen, sie lügen“, antwortet der Chor, „sie halten kein Versprechen / Die Murga will Gesundheit und Freiheit / Arbeit, Gerechtigkeit und ein Leben in Würde“.
Mit solchen Texten ecken die Murgas an. Immer wieder wurden sie verboten, auch während der letzten Diktatur in Argentinien von 1976-83. Aber was über Jahrhunderte nicht gelang, fruchtete auch diesmal nicht. Die Murga wurde stärker denn je. Noch bevor die Diktatur endgültig zu Ende ging, trafen sich in Nachbarschaftszentren schon heimlich die Murgueros. „Als abzusehen war, dass sich die Militärs nicht mehr lange halten können, konnte man von Woche zu Woche beobachten, wie die Murgas wieder neu entstanden“, erinnert sich Patricio Rojas, einer der ersten Murgueros, der sich wieder auf die Straße traute. Aber viele der alten Murgueros gab es nicht mehr und die Jungen waren zu klein, um eine wirkliche Murga bewusst miterlebt zu haben. „Den ersten Murgas hat man angemerkt, dass den Murgueros die Erfahrung fehlt. All das Wissen über die Murga konnte ja während der Diktatur nicht weiter gegeben werden. Aber es war beeindruckend zu sehen, mit welchem Eifer die jungen Leute diese Tradition wieder aufleben ließen“, erzählt Patricio. Heute gibt es über 100 Murgas in Buenos Aires. Die Stadt förderte sie seit 1997 sogar als kulturelles Erbe. Doch jetzt ist kein Geld mehr da. Über den Verkauf von Losen, gegrilltem Fleisch und Würsten versuchen die Murgas, wenigstens einen Teil ihrer Kosten zu decken. Ihre Auftritte sind ohnehin zumeist Solidaritätsveranstaltungen. Um Profit geht es dabei niemandem.
Der letzte Bomboklang ist verhallt. Die Murga Los Mocosos de Liniers hat sich verabschiedet. Langsam verstreuen sich die Leute, stehen noch in Gruppen zusammen, wollen nicht nach Hause, zurück in den Alltag. Die Tänzer sind erschöpft. Doch auch nach mehr als einer Stunde Tanz lachen sie noch immer: „Das ist es eben, was die Murga hat: sie ist eine Kraft, die dich mitreißt. Und so lange wir noch springen und lachen können, wird es auch Murgas geben. Wir brauchen sie einfach.“