ArchitektInnen unserer Zukunft

Von Robert Neuwirth · · 2006/04

Zwei Jahre verbrachte New Internationalist-Autor Robert Neuwirth* in Squattersiedlungen. Geblieben ist ihm ein Gefühl der Bewunderung für die Menschen, die dort leben.

Die Frauen von Vikas Sagar leben noch immer in ihren einstöckigen Häusern, die an den steilen Hängen über der Mahim Bay zu kleben scheinen. Sie machen sich auch noch die selben Sorgen – über Überschwemmungen, Erdrutsche, und ob sie mit ihrem Geld auskommen werden. Aber heute sind ihre Häuser dauerhaft gebaut: aus Beton, nicht mehr aus Lehm. Ihre Gehsteige sind mit Ziegeln ausgelegt und zementiert, um die Erosion zu stoppen. Und sie haben, mit Hilfe ihres gemeinsamen Sparprogramms, eine kleine Bank gegründet, bei der sich jede von ihnen Kredit beschaffen kann. Sie haben ihr Leben und ihre Gemeinschaft verwandelt.
Wie haben sie das geschafft? Indem sie sich organisierten, anstatt zu verzweifeln. Vikas Sagar ist eine kleine Squattersiedlung in Mumbai. Es gibt sie schon seit Jahrzehnten. Aber die neun Frauen, die im Haus von Mumtaz Sadik Shaikh am Boden sitzen, wissen genau: Wie lange auch immer sie hier gelebt haben, für die Regierung sind sie alle „illegal“. „Wenn wir nicht selbst was tun, wird uns niemand was geben“, sagt Lali Penday. Ihre Nachbarinnen nicken zustimmend.
So war es nicht immer. Vor wenig mehr als zehn Jahren waren die Frauen von Vikas Sagar traditionelle Hausfrauen und standen unter dem Kuratel ihrer Ehemänner. „Als wir anfingen“, erinnert sich Sangita Duby, „konnten wir nicht einmal unsere Häuser verlassen. Wir waren AnalphabetInnen und unterschrieben mit dem Daumen. Jetzt unterschreiben wir mit unserem vollen Namen, in Hindi und Englisch.“ Die Frauen von Vikas Sagar kennen die lokalen PolitikerInnen. Und, was wichtiger ist, die PolitikerInnen kennen sie.

Heute leben weltweit eine Milliarde Menschen in Slums, beinahe jeder sechste Mensch. Und es werden immer mehr. Jeden Tag verlassen 180.000 Menschen die ländlichen Gebiete der Welt in Richtung der Städte. Das sind ca. 130 in der Minute, zwei in der Sekunde. Sie haben alle das selbe Problem: Sie suchen Arbeit, und sie finden sie auch. Aber sie finden keinen Platz zum Wohnen. Keine Wohnbaugesellschaft baut für sie. Keine Regierung scheint gewillt zu sein, die erforderlichen Mittel zu investieren, um ihnen ordentliche Wohnungen zur Verfügung zu stellen, die sie sich auch leisten können. Also werden sie Squatter, lassen sich auf ungenutztem Grund nieder oder schließen sich Gemeinschaften von Leuten an, die das selbe schon vor ihnen durchgemacht haben.
Die meisten Regierungen haben auf diese Massenmigration mit Entrüstung reagiert und versucht, die Squatter aus den Städten zu vertreiben. Im November 2005 begann etwa eine derartige Aktion in Kolkata (Kalkutta). Ein Richterkollegium ordnete die Räumung von 20.000 Familien aus einer wohlbekannten Squattersiedlung entlang einer städtischen Eisenbahnlinie an. Die Squatter reagierten mit Demonstrationen und Blockaden von Hauptverkehrsstraßen.
Solche Pogrome im offiziellen Auftrag beruhen auf einem grundlegenden Missverständnis der Squatter und ihrer Gemeinschaften. Die meisten Außenstehenden betrachten diese Gegenden nur als Inkarnationen des Elends, der Gesetzlosigkeit und des Verbrechens. Zweifellos wird man in solchen Siedlungen überall auf der Welt Hunger, Armut und Krankheit vorfinden. Aber ebenso wird man Kliniken, Schönheitssalons, Lebensmittelgeschäfte, Bars, Restaurants, Schneidereien, Kleidergeschäfte, Kirchen und Schulen antreffen. In den meisten Squattersiedlungen werden die Häuser ständig erweitert, umgebaut und erneuert, oft wird fürs Erste nur eine Mauer aufgezogen. Mitten zwischen Elend und offener Kanalisation wird man geschäftliches Leben, Spargesinnung, Energie und Hoffnung finden. Wenn die Städte eine bessere Zukunft haben wollen, dann sollten sie nicht mit Gewalt gegen ihre Squatter vorgehen, sondern sich ihre Vitalität zunutze machen. Mit einer Garantie, dass sie nicht vertrieben werden, und der Möglichkeit, sich einzubringen, werden sie ihre Siedlungen und damit auch ihre Städte von Grund auf erneuern. Die Frauen von Vikas Sagar sind dazu bereit.

In Mumbai, einer Stadt mit zwölf Millionen EinwohnerInnen, die Hälfte davon in Slums, befindet sich der Sitz einer internationalen Organisation namens Slum/ Shack Dwellers International (SDI). Gegründet wurde SDI schon in den 1970er Jahren, jedoch unter einem anderen Namen. Heute ist sie in 14 Ländern vertreten. Wie die Frauen von Vikas Sagar konzentriert sich SDI auf Sparinitiativen für Menschen aus Slums, und die weltweit 5,6 Mio. Mitglieder haben zusammen 32 Mio. US-Dollar angespart. Das Prinzip ist einfach: jede Squattergemeinschaft, die sich SDI anschließt, gründet eine Spargruppe. Eine Familie kann beitreten, wenn sie bereit ist, jeden Tag einen kleinen Beitrag zu leisten. Das gesparte Geld wird der Gemeinschaft in Form kleiner Kredite wieder zur Verfügung gestellt.
„Weil wir Ersparnisse haben, brauchen wir nicht PolitikerInnen zu bitten, die Lebensumstände, die wirtschaftliche Lage oder unsere Häuser zu verbessern“, sagt Jockin Arputham, seit langen Jahren Squatter-Aktivist in Mumbai sowie Gründer und Präsident von SDI. Der kleine Mann mit fortschreitender Glatze, einem dünnen grauen Schnurrbart und der Andeutung eines Buddha-Bauches könnte als eine Art Philosophenkönig des Squatter-Aktivismus bezeichnet werden. Früher eher ein Heißsporn (er sperrte einmal einen Beamten in eine Latrine ein, um ihm ein Versprechen neuer Toiletten für seine Gemeinschaft abzuringen), sieht er nun Ersparnisse als effizientere Methode an, etwas weiterzubringen. „Mit den Ersparnissen wird man stark.“
Mit dieser Strategie hat es das weltweite Netzwerk der Organisation geschafft, bisher zumindest 100.000 feste Häuser zu errichten und mehr als 200.000 Haushalten zu sicheren Wohnrechten zu verhelfen. In einem gewissen Sinn bauen Jockin und seine KollegInnen eine parallele Regierung auf, die unter Umständen – wenn die Mittel vorhanden sind und auch die Kompetenzen – jene Leistungen erbringen wird können, die den Menschen in Slums derzeit von den Behörden verweigert werden. „Wir glauben fest daran, dass die Probleme der Armen in den Städten nur von den Armen in den Städten gelöst werden können, von niemand sonst“, betont Jockin. „Die Armen in den Städten werden die ‚Change Agents‘ der Städte sein.“

Eine noch wirksamere Methode – die meines Wissens nur in der Türkei praktiziert wird – besteht darin, informellen Siedlungen politische Rechte zu geben. Sobald eine Siedlung 2.000 EinwohnerInnen hat, kann sie bei der Regierung eine Anerkennung als Gebietskörperschaft beantragen. Sultanbeyli, auf der asiatischen Seite von Istanbul, nahm diese Chance wahr. Vor einer Generation war Sultanbeyli ein winziges Dorf, in dem sich gerade Menschen aus dem Osten niederzulassen begannen. Die ersten Ankömmlinge lebten in Hütten, zapften den Strom illegal ab und hatten weder fließendes Wasser noch Toiletten.
Als immer mehr Leute hinzukamen, beantragte Sultanbeyli eine Anerkennung als Gebietskörperschaft. Seit 1989 ist Sultanbeyli nun eine Gemeinde, seit 1992 sogar ein Bezirk mit erweiterten Selbstverwaltungsrechten. Heute residiert Yahya Karakaya, der gewählte Bürgermeister, in einem klimatisierten Büro in der obersten Etage des siebenstöckigen Rathauses und überblickt von dort ein erstaunliches „Squatter-Reich“: eine Stadt mit 300.000 Menschen, wovon die meisten in Beton- und Ziegelhäusern leben, mit einer geschäftigen Hauptstraße voller Geschäfte, Büros, Restaurants, Banken und Autohändlern.

Es braucht Selbstvertrauen, um politisch aktiv zu werden und andere zu organisieren. Genau daran mangelt es jedoch den meisten Menschen, wie ich in meinen zwei Jahren in Squattersiedlungen feststellen musste. Etwa Elocy Kagwiria Murungi, die ich in Kibera traf, Nairobis größtem und primitivsten Slum – hier leben 500.000, vielleicht eine Million Menschen ohne fließendes Wasser, Kanalisation oder andere öffentliche Dienstleistungen. Als sie nach Kibera kam, hatte sie nichts; heute ist sie Lehrerin in einer Schule für Straßenkinder. Für mich ist sie ein erfolgreicher Mensch: Sie hat sich in ihrer Zeit in Kibera ein besseres Leben erkämpft und ihrem jungen Sohn Collins eine chancenreichere Zukunft ermöglicht. Aber diese intelligente, hart arbeitende Frau sieht das anders. Sie beschreibt sich als Parasitin. „Ich mache das wie eine Laus, wie Läuse das tun. Ich grab mich wo hinein und versuch davon zu leben.“
Eine Änderung dieser Selbstwahrnehmung ist der Schlüssel, um in den wachsenden Elendsvierteln der Welt etwas voranzubringen. Denn es sind Menschen wie Elocy und Collins, die, wenn sie begreifen, dass sie Führungspersönlichkeiten sind und nicht Parasiten, die stärkste Kraft für positive Veränderungen in ihren Städten sein werden. Mit Sicherheit, Stabilität und politische Rechten ausgestattet werden sie es sein, die die Städte der Zukunft aufbauen.

Copyright New Internationalist

Robert Neuwirth ist Autor von „Shadow Cities: A Billion Squatters, A New Urban World“ (Routledge, New York 2005).

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