Juan Rulfo neu gesehen: Ein Band mit Liebesbriefen an seine Frau Clara und ein Bildband mit eigenen Fotos erlauben einen neuen Zugang zu dem großen mexikanischen Autor.
Man braucht nicht lange zum Lesen jenes schmalen Bandes, der Juan Rulfo weltberühmt machen sollte: ganze 132 Seiten umfasst die Suhrkamp-Edition von „Pedro Páramo“. Den Nobelpreis erhielt zwar Gabriel García Márquez, der Rulfo zu seinem Vorbild erklärt hatte; doch in Lateinamerika und Spanien wurde der schweigsame Mexikaner, der nur zwei Bücher – „Pedro Páramo“ und den Erzählband „Der Llano in Flammen“ – mit insgesamt etwa 300 Seiten veröffentlichte, mit den höchsten Auszeichnungen geehrt.
Die Geschichte über den Tyrannen Pedro Páramo und das Dorf Comala ist eine Parabel der Endzeit. Lebendig ist allein der Besucher des Dorfes, der als Chronist auftritt – alle seine Gesprächspartnerinnen und –partner sind tot. Ein magisches, gespenstisches Ambiente von Leere und Tod, von Einsamkeit und Melancholie, das durch die erzählerische Kraft des Autors wie ein Film vor den LeserInnen abläuft.
Seine ungeliebte Arbeit als Handlungsreisender der Reifenfirma Goodrich führte Rulfo jahrelang kreuz und quer durch Mexiko. Und was bis vor kurzem nicht bekannt war: Auf diesen Reisen begleitete ihn ständig seine Kamera. Zwischen 1940 und 1955 „schießt“ Rulfo mehr als 6.000 S/W- und 1.000 Farbfotos. Sie wurden in seinem Nachlass aufgefunden, in Schuhschachteln gesammelt.
Die Fotos sind von einer ungeheuren atmosphärischen Dichte. Sie tragen dieselbe Handschrift des Schriftstellers Juan Rulfo, der im „Pedro Páramo“ schrieb: „Im strahlenden Sonnenlicht glich die Ebene einer durchsichtigen Lagune, die sich in Dunstschleier auflöste und den Blick auf den grauen Horizont freigab.“
Juan Rulfo kam 1917 oder 1918 in einer Kleinstadt im nördlichen Bundesstaat Jalisco auf die Welt. Seine Kindheit war geprägt von den zu Ende gehenden Revolutionswirren und neuen Aufständen. 1933 kommt er in die Hauptstadt, arbeitet als Angestellter bei der Einwanderungsbehörde und beginnt zu schreiben, vernichtet jedoch seinen ersten Roman. Ab 1945 publiziert er ab und zu Erzählungen in Literaturzeitschriften. 1955 erscheint „Pedro Páramo“, mit dem Rulfo zumindest in Insider-Kreisen zum Star wird.
Es klingt wie ein etwas kitschiger Liebesroman: In Guadalajara, wo sich Rulfo immer wieder für längere Zeit aufhielt, erblickt er 1941 ein 13-jähriges Mädchen, das ihn fasziniert. Er erkundigt sich über sie, doch erst drei Jahre später wagt er es, sie in einem Café anzusprechen. Clara Aparicio war zu diesem Zeitpunkt gerade 16 Jahre alt. Juan „erklärt sich“ dem elf Jahre jüngeren Mädchen, doch Clara, offenbar unter dem Einfluss ihrer Mutter, erbittet sich eine Wartezeit von drei Jahren.
Hier beginnt die schriftliche Kommunikation. Juan, der in die Hauptstadt übersiedelt war, schreibt zahlreiche Briefe an seine Geliebte. Liebesbezeugungen, die das junge Mädchen offenbar mit Freude entgegengenommen hat. Der wortkarge, verschlossene und auch im Äußeren nicht gerade attraktive Autoreifen-Vertreter äußert sich in diesen Briefen als redefreudiger, zärtlicher, poetischer und verspielter Liebhaber – und gewährt darin tiefe Einblicke in seine seelische Landschaft: die einsame Kindheit, das Gefühl der Verlassenheit, seine existenziellen Probleme.
Juan und Clara gründen eine Familie, leben zusammen, die Kinder kommen auf die Welt, eins, zwei, drei, vier. Langsam entwickelt sich auch die öffentliche Anerkennung, schließlich der internationale Erfolg. Doch das Gefühl der Einsamkeit verlässt ihn nicht, überwältigt ihn sogar. Clara widmet sich der Familie und der Malerei, Juan überlässt sich immer mehr der Traurigkeit, dem Alkohol und dem Schweigen. Als ob er sich schon zu Lebzeiten zurückziehen wollte nach Comala, ins Reich der Toten.
Anfang Jänner 1986 stirbt Juan Rulfo in der mexikanischen Hauptstadt.
Die Edition der Liebesbriefe an Clara – die von ihr selbst und ihren vier Kinder authorisiert wurde – stellt nicht nur eine bewegende Annäherung an einen bis jetzt unbekannten Juan Rulfo dar; sie bietet auch eine Vielzahl von Anleitungen für LiebesbriefschreiberInnen (falls es diese Kategorie von Menschen überhaupt noch gibt).
Juan Rulfo: Mexiko – Wunderbare Wirklichkeit. Mit Texten von Carlos Fuentes u.a. Benteli Verlag, Bern 2003, 224 Seiten, über 185 Duplex-Abbildungen, EUR 65,-
Juan Rulfo: Wind in den Bergen. Liebesbriefe an Clara.
Verlag Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2003,
322 Seiten, EUR 23,30