Am Puls der Bedürfnisse

Von Irmgard Kirchner · · 2002/02

Viele Entwicklungsprobleme werden am besten über eine Stärkung der Frauen in der Gesellschaft angegangen. Wie diese bewirkt werden kann, zeigt das von Österreich in Nepal finanzierte Projekt WHEEL.

Ein Bett, am Fußboden eine Kiste mit Kleidern, eine zweite überquellend mit Büchern, ein Bügeleisen. In dieser kargen Kammer wohnt Kalbana Pandey. Kein Schild an dem einfachen Haus mitten in der Gemeinde Dadhikot im Kathmandu-Tal verrät das Büro von Didi Bahini, einer nepalesischen Nichtregierungsorganisation.
Büro ist auch schon zu viel gesagt: zwei einfache Holztische mit Stühlen, in der Mauernische dahinter gestapelte Broschüren und Bücher.
Kalbana, deren Namen man mit „Traum“ übersetzen könnte, arbeitet als so genannte „Forscherin“ für Didi Bahini. Kalbana teilt das Leben mit den DorfbewohnerInnen, benutzt die selben Latrinen und schöpft aus den selben Brunnen Wasser. Dadhikot wirkt dörflich, ist jedoch wirtschaftlich eng mit dem städtischen Ballungsraum Kathmandu/Bakthapur/Patan verwoben.
Vor zwei Jahren zog Kalbana für das Projekt WHEEL (Women in Health, Education, Environment and Local Resources) nach Dadhikot. Immer höflich, immer ruhig, tastete sie sich an die Dorfbevölkerung heran, besuchte die Häuser mehrmals. Nach etwa drei Monaten war das Eis gebrochen. „Gar nicht leicht für jemanden, der im Bereich Entwicklung tätig ist und vorerst nichts anderes tut als reden“, meint Bharat K. Pokharel, Forstwirt und technischer Berater von Didi Bahini. Auch die nepalesische Bevölkerung hänge nach 30 bis 40 Jahren Präsenz von „Geberorganisationen“ einem Begriff von Entwicklung an, der zuerst einmal an Straßen oder Telefonleitungen denken lässt. Im WHEEL-Projekt geht es um eine Steigerung der Autonomie von Frauen, um die Verbesserung ihrer Lebenssituation und schließlich auch um eine Reduktion der Armut.
„Empowerment“ als Entwicklungsziel, ein Arbeiten auf der Ebene des Bewusstseins, meint Pokharel, stoße zunächst einmal auf Widerstände oder Unverständnis.

Doch in Dadhikot wird sichtbar, dass auch innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne einiges bewirkt werden kann. WHEEL ist ein Projekt des Weltbevölkerungsfonds UNFPA, durchgeführt von Didi Bahini, was übersetzt „ältere Schwester/jüngere Schwester“ heißt. Und für zwei Jahre hat Österreich die Finanzierung in der Höhe von ca. 110.000 US-Dollar übernommen. Beim UNFPA, bei Didi Bahini und unter den NutznießerInnen des Projektes hofft man auf eine Weiterfinanzierung.
Seit 1974 unterstützt UNFPA das Bevölkerungsprogramm der nepalesischen Regierung. Trotz sinkender Fertilitätsrate wächst die Bevölkerung immer noch: Über 23 Millionen Menschen leben in dem Land, das 1,7 Mal so groß wie Österreich ist. Fruchtbares Ackerland ist in Nepal mit seiner einzigartigen Topographie – ein Höhenunterschied von 8000 Metern auf 200 Kilometern – knapp. Eine der Strategien der Bevölkerungspolitik, die sich langfristig als am wirksamsten erwiesen hat, ist die Verbesserung der Stellung der Frauen.
Nepal gehört zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Und Frauen sind nochmals benachteiligt. Sie haben in dem Himalaya-Königreich sogar eine geringere Lebenserwartung als Männer, drei Viertel der weiblichen Bevölkerung sind Analphabetinnen.
Didi Bahini verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz von Empowerment: Das bedeutet, zuerst einmal die eigenen innersten Gefühle zu entdecken, um dann Handlungsmöglichkeiten und schließlich die eigene Stärke zu entdecken. „In Nepal artikulieren sich Frauen nicht in der Gesellschaft“, meint Saloni Singh, international erfahrene Ökonomin und Geschäftsführerin von Didi Bahini.
Auch wenn es – wie im Projekt WHEEL – um Gesundheit, Bildung, Umwelt und lokale Ressourcen gehe: Gefühle seien immer wichtig, daran führe kein Weg vorbei.

Das Dachgeschoss des Hauses von Didi Bahini in Dhadikot dient als Versammlungsraum. Unter den Dachbalken spannt sich eine riesige blaue Plastikplane als Schutz vor den Monsun-Regenfällen. Zwölf Frauen und sechs Männer sitzen auf dem Boden versammelt, um die angereisten JournalistInnen aus Österreich zu treffen.
Die wollen wissen, was WHEEL den Anwesenden bisher gebracht habe. „Das Bewusstsein, dass Gender von der Gesellschaft gemacht wird.“ Eine Formulierung, die man von einer einfachen nepalesischen Dorffrau wie der Gesundheitshelferin Sabitri Neopani nicht unbedingt erwartet hätte.
Alle sind sich einig, dass sich Frauen jetzt merklich anders am öffentlichen Leben beteiligen und ihre Bedürfnisse aussprechen.
Mana Basnets Ehemann hatte sie ermutigt, für das Village Development Committee, den lokalen Entwicklungsrat, zu kandidieren: Sie habe gewonnen und sei nur wegen des Knabbergebäcks zu den Sitzungen gegangen. Damals wusste sie nicht einmal, wie man ein Mikrophon in die Hand nimmt, doch jetzt möchte sie es nicht mehr aus der Hand geben.
Shova Neupane, 22, die einzige Brillenträgerin in der Versammlung und die erste Frau des Dorfes mit einer akademischen Ausbildung, ergreift das Wort. Sie habe schon viele NGOs arbeiten gesehen. Das Besondere an Didi Bahini sei, dass nicht über Programme gesprochen, sondern die Bedürfnisse der Menschen verstanden würden. Es würden nicht nur Leute für ein zwei- bis dreitägiges Training anreisen. Kalbana sei 24 Stunden zur Unterstützung der DorfbewohnerInnen da.
Die „Forscher“ im WHEEL-Projekt arbeiten paarweise: ein Mann und eine Frau, ein Naturwissenschaftler, eine Sozialwissenschaftlerin. Kalbanas männliches Pendant Kishor Gyawali ist mit einer Frau aus dem Dorf verheiratet.
Menschen wie Kalbana zu finden, erwies sich für Didi Bahini als schwieriger als erwartet. Denn sogar innerhalb der eigenen Organisation geben die Führenden zu, selbst nicht gerne aufs Land ziehen zu wollen. Sechs ForscherInnen sind für WHEEL in drei verschiedenen Distrikten von Nepal tätig.

Manju Adhikari ist Anthropologin. Sie arbeitet für WHEEL in Bindhabasini im Distrikt Parsa. In diesem Gebiet im Süden von Nepal sind Frauen besonders schlecht gestellt. Ein Blechschild an einem winzigen Lehmhaus eines Gehöftes markiert das Büro von Didi Bahini. Hauseigentümer Krishana Prasad Parajuli, Brahmane und Priester des lokalen Tempels, der für Hindus aus der ganzen Region eine große Anziehungskraft hat, war für die Ideen von WHEEL aufgeschlossen. Manju schläft im selben Raum wie die Töchter des Hauses.
Auch Manju hat eine eindrucksvolle Datensammlung angelegt, die wohl alle Volkszähler vor Neid erblassen lassen würde. 4000 Menschen, schätzt sie, sind die potentielle Zielgruppe von WHEEL. Von 400 von ihnen kennt Manju die Bedürfnisse ziemlich genau.

Für die Frauen stehen Schulbildung und Erwachsenenbildung ganz oben, für die Männer hingegen die Verfügbarkeit von Saatgut, Pestiziden und Dünger – bei den Frauen erst die Nummer zwei der Bedürfnisse. Am zweitwichtigsten für die Männer ist die Bewässerung. Dann kommt die Verfügbarkeit eines Arztes. Bei Frauen rangiert der Arzt erst an sechster Stelle. Laut Manju liege das daran, dass es sich Frauen kaum zugestehen, krank zu sein und, wenn überhaupt, traditionelle Heilpraktiken anwenden würden.
Lange habe es gedauert, bis sich die Frauen überhaupt geäußert hätten. Jetzt steht Manju vor der Aufgabe, die Interessen zusammenzubringen.
In Bindhabasini gibt es kein Gemeinschaftsland. Als Brennstoff dient getrockneter Kuhdung. In den Häusern fehlen Toiletten, unter Tags dürfen die Frauen nicht die Latrinen außerhalb des Hauses benutzen. Ohne Seife, ohne Waschgelegenheit kommt es zu hygienischen Problemen. Viele Menschen leiden an Durchfall, an Fieber, Erkältungen und Fehlernährung.
12% der von Manju Befragten sind Dalits, „Unberührbare“ in der hinduistischen Kastenhierarchie. WHEEL will nicht nur ein Bewusstsein für die Gleichheit der Geschlechter, sondern auch der Kasten schaffen. Das braucht Zeit. Doch durch das eigene Vorbild, dass höherkastige Intellektuelle die Untersten in der gesellschaftlichen Hierarchie nicht anders als ihresgleichen behandeln, kann ein Umdenken eingeleitet werden.
Der Brahmane Parajuli hat für eine Versammlung von WHEEL sogar seinen Tempel für die Unberührbaren geöffnet. Ein zukunftsweisender Tabubruch.
26 Mitglieder hat die WHEEL-Frauengruppe im Ort. Eines davon ist die Dalitfrau Chandarma Devi, eine 46-jährige Hebamme. Welche Veränderungen WHEEL bewirkt habe? Jetzt könnten Dalits und Höherkastige auf der Straße gemeinsam Cola trinken. Baharathi Devi, von der höheren Kaste der Ahir, bei Chandarma zu Besuch, bekräftigt: „Wir haben alle das selbe Blut, doch die Gesellschaft glaubt es nicht. Die Veränderung muss von innen kommen!“

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