Roter Staub fegt durch die Gassen des Dorfes San Andrés, verdunkelt den blauen Himmel und dringt erbarmungslos in die aus Lehmziegeln errichteten Häuser ein, die mit trockenem Gras gedeckt sind. „Das ist der schwarze Wind“, erklärt ein Schamane, der am Dorfplatz sitzt und zum Himmel schaut. Die Windböe legt sich langsam, der Staub sinkt zu Boden und es kehrt wieder eine gespannte Ruhe ins Dorf ein, die nur von Kindergelächter und Vogelgeschrei unterbrochen wird. Es sind nur wenige Leute im Dorf anzutreffen: Frauen und Männer in ihren traditionellen Trachten, spärlich bekleidete Kinder mit einer dicken Staubschicht auf dem Körper. Ein Hund läuft über den Platz, der Schamane nimmt einen Stein in die Hand und wirft ihn nach dem Tier. Dieses erkennt sofort, dass es nicht erwünscht ist, und sucht schnell das Weite.
Doch werfen wir zuerst einen Blick auf die Landkarte, um zu sehen, wo wir uns befinden. San Andrés ist ein Dorf im mittleren Mexiko, ziemlich abgelegen in der Sierra Madre Occidental im Bundesstaat Jalisco auf circa 2.000 Meter Seehöhe. Es gibt zwei Möglichkeiten, den Ort zu erreichen. Entweder mit dem Bus, der von der nächstgrößeren Stadt Huejuquilla acht Stunden über holprige Feldwege unterwegs ist, oder mit dem Flugzeug, das von Ixtlán del Río in einer halben Stunde die kleine Landebahn von San Andrés erreicht, die das Dorf in der Mitte durchschneidet und auf der normalerweise Kühe weiden.
San Andrés hat etwa 600 EinwohnerInnen und ist eine der größten Gemeinschaften der Huicholes, einer ethnischen Gruppe, deren Anzahl auf 15.000 bis 20.000 Angehörige geschätzt wird. Ihr Lebensraum ist in fünf Gemeinden gegliedert, wobei jeder Gemeinde ein Hauptort vorsteht, der die zentrale Anlaufstelle für politische und religiöse Angelegenheiten darstellt. San Andrés ist so ein Gemeindezentrum. Hier finden sich der Sitz der obersten Autoritäten, das Haus, in dem der Ältestenrat tagt, sowie das religiöse Zentrum, in dem wichtige Feiern abgehalten werden.
Gegenüber der Kirche liegt das Gefängnis, in das nicht nur Leute eingesperrt werden, die gegen das traditionelle Recht verstoßen, sondern auch von Zeit zu Zeit Tiere wie Esel, Hunde oder Schweine. Das passiert aber nur, um diese während einer traditionellen Feier von den Straßen fernzuhalten. Dann werden sie gemeinsam mit den Betrunkenen in die Zelle gesteckt. Auch TouristInnen landen öfters hinter Gittern, meistens weil sie ohne Erlaubnis Fotos machen. Jede Besucherin und jeder Besucher muss beim Dorfvorsteher eine Aufenthaltsgenehmigung und eine Erlaubnis zum Fotografieren besorgen, um unangenehme Überraschungen zu vermeiden.
In manchen Huichol-Dörfern werden bis heute keine Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, Anthropologen und sonstige Besucherinnen, die keine Huicholes sind, geduldet. Die Einheimischen haben beschlossen, ihr Leben autonom und ohne auswärtige Hilfe zu gestalten. Fremde werden nicht mehr geduldet, weil sie die Huicholes ausgenutzt haben. Leute sind gekommen, haben Fotos gemacht und Information mitgenommen, ohne irgendetwas dafür zurückzugeben. Sie haben die Regeln und Gesetze nicht beachtet und sich respektlos gegenüber den Einheimischen verhalten. Deswegen dürfen sie jetzt nicht mehr in die Dörfer.
In San Andrés jedoch sieht die Lage anders aus. Vor rund 30 Jahren hat sich die Bevölkerung der ganzen Gemeinde in einer Generalversammlung dazu entschlossen, Hilfe anzunehmen und mit der Außenwelt zu kooperieren. An Problemen mangelt es wahrlich nicht. Die Wasserversorgung ist nur bruchstückhaft gewährleistet. Das kostbare Nass wird häufig aus kleinen Quellen neben den Siedlungen geschöpft. Toiletten und Duschen sind keine vorhanden, ebenso wenig wie fließendes Wasser in den Häusern. Die Wäsche wird im Fluss gewaschen, weshalb dessen Wasser ungenießbar ist. Geduscht wird entweder direkt bei den Quellen oder in den Häusern mit Wasser, das von den Frauen herbei getragen wird. Als Toilette dienen die umliegenden Wälder. Die Exkremente werden von den Hunden und Schweinen beseitigt, die auf der Suche nach Nahrung herumziehen. In kleineren Siedlungen befinden sich die Quellen oft mehrere Kilometer entfernt. Nur wenige Haushalte haben es geschafft, mit kilometerlangen Schläuchen Wasser von den Bergen zu ihren Häusern zu leiten – diesen Luxus können sich nur wenige leisten.
„Niemand hilft uns“, klagt eine Frau aus einem abgelegenen Dorf. Vereinzelte Ortschaften leben in einer schwer vorstellbaren Armut und Einfachheit. Einige haben den Schritt zu einer Öffnung gesetzt und akzeptieren Hilfsprojekte sowohl von staatlicher Seite als auch von Nichtregierungsorganisationen. Jedoch ist selten die ganze Bevölkerung damit einverstanden. Viele Huicholes, die die Schule besucht haben, legen nur mehr wenig Wert darauf, gemäß ihren traditionellen Gebräuchen zu leben. Zwar wird seitens der Lehrkräfte versucht, den Unterricht der indigenen Kultur anzupassen, doch lassen sich ein regelmäßiger Schulbesuch einerseits und das hoch ritualisierte Leben andererseits schwer miteinander verbinden, ohne die Lebensweise komplett zu verändern.
Die Huicholes sind ein Pilgervolk. Sie müssen regelmäßig Opfergaben zu heiligen Plätzen bringen, die bis zu 800 Kilometer von ihren Wohngebieten entfernt liegen. Obwohl mittlerweile der Bus die Fußreise abgelöst hat, nehmen die vielen Reisen, um die Kerzen, Pfeile, Federn und Kürbisschalen in die Höhlen, auf die Berge und in die Wüste zu bringen, viel Zeit in Anspruch. Längere Reisen, deren Ziele außerhalb des Huichol-Territoriums liegen, sind mit mehrtägigen Feiern verbunden, bei denen die Götter um Hilfe und Schutz gebeten werden.
Der Zeitpunkt der traditionellen Feiern hängt großteils von einem Agrarkalender ab, der sich nicht nach katholischen Feiertagen richtet. Gefeiert wird dann, wenn der Mais, das Hauptnahrungsmittel, gesät und geerntet wird, wenn eine Pilgergruppe ins Dorf zurückkehrt oder bevor die Regenzeit beginnt. Die Schule bleibt dann geschlossen: der Schulbesuch würde Kinder, Jugendliche und Lehrer davon abhalten, an diesen Feiern teilzunehmen. Dabei erzählen die Dorfältesten und Schamanen in der Gemeinschaftshütte über die Entstehung der eigenen Kultur, kommunizieren mit den Göttern und geben ihr Wissen weiter. Ein Pflichtprogramm für traditionsbewusste Huicholes. Auch aus diesem Grund ist die Übernahme eines westlichen Schulmodells bei gleichzeitiger Fortführung des traditionellen Lebens für die Huicholes so gut wie nicht vereinbar.
Dennoch breiten sich auch hier das westliche Schulsystem und die westliche Medizin immer stärker aus. Obwohl das kulturelle Selbstbewusstsein der Huicholes sehr stark ausgeprägt ist und nur schwer fremde Einflüsse zulässt, wird von der westlichen Medizin ständig mehr Gebrauch gemacht. Ärzte werden in die Dörfer geschickt, um die nötigsten Medikamente zu verabreichen. Trotzdem ist die Kindersterblichkeit in der Sierra extrem hoch. Menschen sterben an Krankheiten, die leicht behandelt werden könnten. Im allgemeinen wird die traditionelle Medizin den modernen Medikamenten vorgezogen.
Der indigenen Vorstellung nach sind Krankheiten Geisteswesen, die zuerst im Kranken gesucht werden müssen, um dann mittels Pfeilen aus dem Körper gesaugt zu werden. Bei der Einteilung der Krankheiten kommt der Farbsymbolik eine besondere Rolle zu; Ausdrücke aus der modernen Welt erhalten ihre eigene Bedeutung.
„Ja, es gibt auch bei uns Aids“, meint der Schamane am Dorfplatz, „grünes Aids, gelbes Aids, blaues und schwarzes Aids. Das grüne und das gelbe Aids hat es hier schon früher gegeben. Das blaue und das schwarze Aids sind jedoch erst später von den Vereinigten Staaten gekommen.“ – Wobei er mit grün und gelb offenbar ältere Geschlechtskrankheiten wie Syphilis und Herpes meint, mit schwarz und blau die tödliche HIV-Erkrankung. „Die Leute sterben daran. So ist das hier bei den Huicholes.“ Er spuckt auf den Boden, steht auf, lässt noch ein kurzes „Wir sehen uns später“ von sich hören, schlendert über den Platz und verschwindet zwischen den Häusern.