Alicia Kozameh schreibt über Unsagbares

Von Milena Österreicher · · 2024/Sep-Okt
© Alexander Chitsazan

Die Autorin Alicia Kozameh wurde für ihre literarische Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktatur bekannt und für ihren politischen Aktivismus sogar inhaftiert. Sie schreibt bis heute.  

Von Milena Österreicher

Ich war und blieb immer Schriftstellerin“, sagt Alicia Kozameh, „um mich zu stoppen, hätten sie mich umbringen müssen“. Kozameh sitzt heute im Lesesaal des Österreichischen P.E.N.-Clubs. Die Brille hat sie für das Gespräch abgenommen, immer wieder schlägt ihr Ring am kleinen Finger gegen die Tischplatte, wenn die Gesten größer werden. Ihre österreichische Übersetzerin Erna Pfeiffer sitzt neben ihr und hilft mit Jahreszahlen aus, wenn sie Kozameh gerade entfallen sind.

Alicia Kozameh wurde am 20. März 1953 in Rosario, der drittgrößten Stadt Argentiniens, geboren. Schon als kleines Mädchen kritzelt Kozameh Notizbücher voll. „Das Schreiben war schon immer meine Art, mich auszudrücken“, erinnert sie sich, „wenn ich nicht schreibe, habe ich das Gefühl, ich bleibe stumm“.

Ungerechtigkeiten stechen der Tochter eines libanesischen Christen und einer syrischen Jüdin früh ins Auge. Sie hinterfragt, warum sie ein Eis bekommt und andere Kinder auf der Straße betteln müssen. Später, an der Nonnenschule, klettert sie über die Schulmauer, um sich Studierendenprotesten auf der Straße anzuschließen.

Angst und Terror. Es sind unruhige Zeiten im Argentinien der 1970er Jahre: Die Wirtschaftslage ist schlecht, linke Guerillatruppen und rechte Paramilitärs liefern sich Auseinandersetzungen, ein Großteil der Bevölkerung lebt in Angst und Terror. 1974 wird Kozamehs Onkel in Rosario von der „Triple A“ (Alianza Anticomunista Argentina), einer regierungsnahen paramilitärischen und rechtsextremistischen Gruppierung, die Linksoppositionelle verfolgte, erschossen. „Das hat mich stark getroffen“, sagt die Autorin, „er war ein wunderbarer Mensch; ein Arzt, der alle behandelte, mit oder ohne Geld“. Damals habe sie sich in den politischen Aktivismus gestürzt.

Kozameh schließt sich dem „Partido Revolucionario de los Trabajadores“ an, einer linken Oppositionspartei. Das bringt sie ein Jahr später mit 22 Jahren in Haft. Sie kommt in die für Folter berüchtigten Haftanstalten: zunächst ins Frauengefängnis des Polizeipräsidiums in Rosario und später nach Buenos Aires. Dennoch gelingt es ihr weiterzuschreiben. Sie kreiert Wörter und Ausdrücke, die die Zensur nicht verstehen würde, und schreibt in das einzige Notizheft, das sie besitzen durfte. „Es war nicht einfach, in dieser Zeit zu schreiben, aber es war für mich ein Teil des Überlebens“, sagt sie heute. Nach einer Weihnachtsamnestie kann sie 1978 aus dem Gefängnis und geht nach Mexiko und in die USA, während die Militärdiktatur von General Jorge Rafael Videla (von 1976 bis 1981 an der Macht) noch bis 1983 das Land regiert.

Erster Roman. Nach ihrer Rückkehr veröffentlicht Alicia Kozameh 1984 Kurzgeschichten und Artikel in argentinischen Medien. Sie erhält Drohungen, dürfe sich nicht weiter öffentlich über die Diktatur und ihre Verbrechen äußern. 1987 publiziert sie ihren ersten Roman „Pasos bajo el agua“ (deutsche Übersetzung: „Schritte unter Wasser“), in dem sie fiktionalisiert ihre und die Erfahrungen ihrer Mitgefangenen verarbeitet. Nach der Buchpräsentation in Buenos Aires stehen zwei Beamte beim Ausgang und sagen ihr, sie solle aufhören und das Land verlassen, sonst passiere nicht nur ihr, sondern auch ihrer vierjährigen Tochter etwas. „Der Repressionsapparat war trotz offizieller Demokratie noch immer intakt“, erzählt die Autorin. So verlässt sie kurze Zeit später das Land.

Seither lebt Kozameh in Kalifornien, in der Nähe von Los Angeles. „Ein sonniger Ort zum Schreiben“, sagt sie. Dort entstand auch das 2001 erschienene Buch „259 saltos, uno inmortal“ („259 Sprünge: Salto immortale inbegriffen“) zum Thema Exil. „Das Bedürfnis, es schriftlich zu verarbeiten, entstand, als ich aufgehört hatte, mich im Exil zu fühlen“, sagt die Autorin.

Neben dem Bücherschreiben unterrichtet Kozameh an der kalifornischen Chapman University Kurse zu kreativem Schreiben. Ob es eine Herausforderung sei, dies nicht in ihrer Erstsprache Spanisch zu lehren? „Ich schreibe ja nicht selbst in den Kursen“, antwortet sie mit einem verschmitzten Lächeln. Nach dem Gespräch setzt Kozameh wieder ihre Brille auf und macht sich mit ihrer Übersetzerin auf zu einem Spaziergang durch das nieselnde Wien.

Milena Österreicher ist Chefredakteurin des vierteljährlich erscheinenden MO-Magazins für Menschenrechte. Als freie Journalistin schreibt sie über Feminismus, Menschenrechte und Migration.

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