Afrikanisches Herz

Von Markus Leiter · · 2009/04

In Uruguay ist Candombe, der „Tanz mit Trommeln”, ein tragendes Element kultureller Identität jener neun Prozent der Bevölkerung, die afrikanische Wurzeln haben. Er hat sich mittlerweile aber auch als Kulturerbe des gesamten Staates etabliert.

„Isla de Flores“ bedeutet eigentlich Blumeninsel, doch es ist nicht der Geruch der Blüten, welcher der gleichnamigen Straße in Montevideo Leben einhaucht. Vielmehr schlägt hier, inmitten der Stadtviertel Barrio Sur und Palermo am Südufer des Río de la Plata, das Herz des Candombe, einer getanzten Trommelmusik mit afrikanischen Wurzeln. Sie ist in der Karnevaltradition des Landes fest verankert, doch auch auf der Straße wird vornehmlich an den Wochenenden drauflosgehämmert, was die Trommeln hergeben. „Candombe ist für mich Spaß und Ablenkung nach einer anstrengenden Woche“, sagt Adriana, eine junge Tänzerin, die „nebenbei“ eine Ausbildung zur Physiotherapeutin macht und in einem Imbissladen jobbt. Für viele Afro-Uruguayos ist die Musik jedoch mehr – kulturelle Identität und Erinnerung an das Leben der Vorfahren.
Wer an einem Samstagabend die Isla de Flores entlang schlendert, braucht nicht lange nach ihnen zu suchen: Gleich mehrere Gruppen von „Tamborileros“, auch „Cuerda de Tambores“ (Trommelorchester) genannt, marschieren mit ihren (manchmal bemalten) Schlaginstrumenten durch ein paar Gassen in der etwas heruntergekommen wirkenden Gegend. So manche Häuserwand ist hier mit Candombe-Motiven geschmückt. Den Trommlern voran geht eine Gruppe von Tänzern beiderlei Geschlechts, die die Bewegungen der wichtigsten, mit vielen Facetten versehenen Figuren des Candombe darstellen: So etwa den „Gramillero“, den Hexer, der es mit den bösen Geistern aufnimmt, oder „Mama Vieja“, die mit dem Gramillero kokettierende alte Mutter, oder den „Escobero“, der mit seinem Stab drohendes Unheil aus der Luft fegen soll.

Musiker und Tänzerinnen bilden gemeinsam eine „Comparsa“, die in mehreren Reihen marschiert und die ganze Straßenbreite ausnutzt. An Anzeigen wegen nächtlicher Ruhestörung denkt in Palermo und Barrio Sur, wo vor Jahrzehnten noch viele Schwarze lebten, niemand. „An den Wochenenden regiert hier der Candombe. Er gehört zu diesem Viertel wie das Amen zum Gebet“, erzählt Carlos, ein älterer Mann, der auf seinem Balkon bei Bier und Gegrilltem dem Treiben entspannt zusieht. Sein Sohn Sebastián ist selbst als Trommler bei einer Comparsa aktiv, und auch der siebenjährige Enkel Fabio übt schon fleißig auf einer Kindertrommel. Hin und wieder zieht er mit den Großen mit, erzählt der Opa stolz und fügt hinzu: „In unserer Familie war der Candombe immer da. Meine Eltern und Großeltern haben mir dieses Erbe weitergegeben und ich meinem Sohn. Schön, wenn die Tradition auch jetzt weitergeht“, freut er sich.
Candombe wird zwar in ganz Uruguay praktiziert, doch das Zentrum ist und war stets Montevideo. Für die meisten Comparsas ist die Verbundenheit mit „ihrem“ Barrio, ihrem Stadtviertel, traditionell sehr wichtig. Dies drückt sich etwa in der Wahl der Gruppennamen aus, die häufig auf Straßen im Barrio verweisen. Für andere – wie etwa die im letzten Karneval sehr erfolgreiche Formation „Yambo Kenia“ – stehen wiederum die afrikanischen Wurzeln der Musik im Vordergrund. „Die Sklaven kamen aus verschiedenen Teilen Afrikas, so dass davon auszugehen ist, dass verschiedene afrikanische Trommelstile Eingang in den Candombe gefunden haben. Daraus entwickelte sich später, als noch andere, v.a. europäische Elemente hinzukamen, eine Musik, die eigenständig ist und sich von brasilianischen Stilen weiter nördlich, etwa vom Samba, sehr deutlich unterscheidet“, führt Gustavo Goldmann, Musikwissenschafter an der Universität von Montevideo, aus. Auch sei Candombe nicht rein ethnisch zu verorten: „Candombe ist hier immer von Schwarzen und Weißen gespielt worden und symbolisiert auf eine sehr spezielle Weise das nicht immer einfache und nicht immer gerechte Zusammenleben der Menschen in Uruguay. Im Laufe der Zeit hat sich diese Musik in der gesamten Gesellschaft durchgesetzt und als gesamturuguayisches Kulturerbe etabliert.“

Die Geschichte des Candombe geht zurück auf die Zeit Mitte des 18. Jahrhunderts, als afrikanische SklavInnen nach Südamerika verschifft wurden. Zu diesem Zeitpunkt machten sie Schätzungen zufolge rund die Hälfte der Bevölkerung des heutigen Staatsgebietes von Uruguay aus. In Montevideo selbst gelten die „Conventillos“, die Viertel, wo nach Abschaffung der Sklaverei vor etwa 160 Jahren auf engem Raum viele Menschen v.a. afrikanischer Herkunft zusammenlebten, als Nährboden des Candombe. Zwei der bekanntesten waren „Medio Mundo“ in Barrio Sur und Ansina in Palermo. In den 1970er Jahren, als Uruguay von einer Militärdiktatur beherrscht wurde, wurden die Conventillos geschlossen, und die Nachkommen der afrikanischen SklavInnen verteilten sich in der Folge auf die Randgebiete der Stadt. „Diese Maßnahme der Diktatur, der zweifellos auch rassistische Motive zugrunde lagen, bildete unabsichtlich eine wichtige Grundlage dafür, dass ab diesem Zeitpunkt Candombe auch in anderen Teilen der Stadt Fuß zu fassen begann. Heute haben selbst noble Barrios, wo kaum je ein Schwarzer gelebt hat, mindestens zwei Comparsas“, so der auf uruguayische Populärmusik spezialisierte Fernsehjournalist Fabián Cardoso.
Für die afro-uruguayische Bevölkerung ist Candombe freilich auch heute ein wichtiges kulturelles Element, den „schwarzen Teil“ der eigenen Geschichte zu verstehen: „Die Trommeln sind unser wichtigstes Werkzeug, sie sind das Symbol der schwarzen Gemeinde in Uruguay. Sie sind das Erbe der Sklaven und repräsentieren ihre Gemeinschaft und ihren Widerstand. Sie bedeuten Zusammenhalt bei der Arbeit und innerhalb der Gruppe sowie kulturelle Identität“, gibt sich Miguel Pereira, Direktor von „Mundo Afro“, einer schwarzen NGO in Montevideo, traditionsbewusst.

Der historisch starke Rassismus sei auch im heutigen Uruguay ein präsentes Übel, die Diskriminierung – etwa bei der Jobsuche – oftmals unausgesprochen, aber doch deutlich zu spüren, meint Robert Gonzalez, Kulturbeauftragter der Organisation und Leiter der Candombe-Bildungswerkstätte Edufocan: „Für uns Schwarze ist immer alles dreimal so schwer.“ Daran änderten auch der multikulturelle Gesamteindruck im Stadtbild und die vielen Mischehen nichts. So sei bei der Armutsstatistik die Hautfarbe als ein trennendes Element erkennbar: Rund 50 Prozent der UruguayerInnen mit schwarzer Hautfarbe leben laut offiziellen Statistiken unter der Armutsgrenze. Im Bildungssystem sei der vorzeitige Schul- und Ausbildungsabbruch bei dieser Bevölkerungsgruppe signifikant häufiger. Im heutigen Parlament sei, obschon die rund 300.000 Afro-UruguayanerInnen etwa neun Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, nur ein schwarzer Abgeordneter vertreten, dennoch sei seit dem Amtsantritt des gegenwärtigen Präsidenten Tabaré Vázquez ein leichter Umschwung zu erkennen, der Hoffnung auf bessere Zeite mache. Die Soziologin Mónica Olaza, die vor kurzem eine Studie zum Thema vorgelegt hat, ergänzt: „Seit den 1980er Jahren ist zu beobachten, dass die auch medial bedingte verstärkte Wahrnehmung, dass Afros in anderen Ländern Bedeutendes leisten und selbstbewusst auftreten, sich auch in der hiesigen Community im Sinne eines affirmativeren Bekenntnisses zur eigenen Herkunft auswirkt.“
Für die – schwarzen wie weißen – HobbymusikerInnen spätabends auf der Isla de Flores stehen freilich nicht politische oder historische Fragen im Vordergrund, sondern der Spaß, bei dem der Ehrgeiz aber nicht fehlt: „Wir haben zu Ostern 2005 als Gruppe von Freunden begonnen. Mit der Zeit sind immer mehr Leute dazugestoßen. Wir ziehen jeden Samstag mit unseren Tambores durch die Straßen. Mal sind mehr dabei, manchmal weniger, je nach Wetter, Lust und Laune. Wirkliche Rivalität gibt es zwischen den einzelnen Gruppen nicht, aber natürlich will jede bei den Candombe-Wettbewerben im Karneval gut abschneiden“, erzählt „Cacho“, Mastermind von „Retumbe de Encina“. So mancher Trommler, wie der Klempner Carlos, steht den touristisch ausgeschlachteten Umzügen samt Wettbewerb im Februar kritisch gegenüber: „Auf der Straße unter dem Jahr ist es am besten und auch authentisch. Der Candombe braucht keine Rundherum-Show, um zu beeindrucken, ebenso wenig wie den Candombe-Beat, die Vermischung mit Rockmusik, die eine Zeitlang hier sehr populär war.“

Markus Leiter studierte an der Uni Wien Germanistik und Anglistik/Amerikanistik. Gegenwärtig arbeitet er an seiner Doktorarbeit über das literarische Exil von Alfredo Bauer in Argentinien. Er Ist im journalistischen und wissenschaftlichen Bereich tätig.

Weiterführende Links:
Allgemeine Infos: www.candombe.com/german.html
Karneval in Uruguay: http://carnavaldeluruguay.com
www.welcomeuruguay.com/carnavales
Veranstaltungslokal El Milongón: www.elmilongon.com.uy
Organisation Mundo Afro: www.mundoafro.org

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