Abseits des Rampenlichts

Von Redaktion · · 2015/05

Smartphones, Spielzeug, Motorräder: Ein Großteil der weltweit konsumierten Produkte stammt aus China. Warum die Wirtschaftsmacht am Kulturexport scheitert, hat Jose Qian recherchiert.

Dai Junjie ist enttäuscht. Eben musste sie erfahren, dass die Fortsetzung von „Tiny Times“, dem in China kommerziell erfolgreichsten Kinofilm des Vorjahres, erst im Juli anlaufen wird. Die 29-jährige Musik- und Eventpromoterin würde nur zu gerne wissen, ob die nächste Episode wieder ein Kassenschlager wird – die letzten drei Folgen von Tiny Times spielten nicht weniger als 1,3 Mrd. Yuan (192,3 Mio. Euro) ein.

Der Filmmarkt in China verzeichnet weltweit die höchsten Wachstumsraten und ist bereits Nummer zwei nach dem US-Markt. Erfolgreich sind insbesondere romantische Komödien, die von der Kritik allerdings im Allgemeinen durch den Kakao gezogen werden – wie übrigens auch Tiny Times. „Der Film ist oberflächlich und unrealistisch“, meint Dai, die von ihrem Büro im 39. Stock eines Wolkenkratzers im Stadtzentrum einen prächtigen Ausblick auf die Skyline von Shanghai genießt. „Aber die Geschichte spielt in dieser Stadt und sie porträtiert einen Lebensstil, von dem die meisten jungen Menschen hier träumen.“

Jenseits von Kung-Fu. Tiny Times, inspiriert von den beliebten Romanen des Schriftstellers Guo Jinming, der auch als Regisseur firmiert, erzählt von vier karriereorientierten Studentinnen in Shanghai. Für seine Fans ist Guo die Stimme einer neuen Generation, für KritikerInnen ist Tiny Times bloß eine oberflächliche Hommage an den Konsum.

Chinesische Filme werden im Ausland kaum registriert. Allgemein bekannt sind am ehesten Kung-Fu-Filme, personifiziert durch den berühmtesten chinesischen Filmstar, den in den USA geborenen, 1973 verstorbenen Bruce Lee. „Dabei ist es beim Film nicht einmal am schlimmsten. Chinesische Regisseure wie Zhan Yimou, Wong Kar-Wai und Jia Zhangke haben viele internationale Filmpreise gewonnen“, so Dai. „Aber was ist mit Musik, Mode oder Kunst? Da weiß der Westen fast gar nichts von China. Das ist sehr traurig, wenn man bedenkt, wie wichtig China ist.“

Welt-Werkbank. Nach drei Jahrzehnten des „Wirtschaftswunders“, mit durchschnittlichen Wachstumsraten von zehn Prozent im Jahr, ist China heute nach den USA die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt (der Internationale Währungsfonds sah das Land schon Ende 2014 auf Platz 1, seine Berechnungen sind aber umstritten.) Seit es 2007 Deutschland überholt hat, ist China Exportnation Nummer eins; der Welthandelsanteil des Landes belief sich 2013 auf 12,2 Prozent, China ist der zweitwichtigste Handelspartner der Europäischen Union.

„China erzeugt heute die Hälfte der Schuhe, Spielwaren, Elektronikprodukte, Möbel und Motorräder der Welt und vor allem auch die iPhones, iPads und MacBooks. China ist die globale Werkbank“, unterstreicht Li Yimin, Analyst der Shanghaier Research-Firma SWS. „Eine Familie in Europa weiß vielleicht nicht, wo ihre Möbel, ihr Fernseher und ihr Kühlschrank produziert werden. Tatsache ist, dass China an all dem in irgendeiner Form beteiligt ist, ob an der Produktion oder an der Montage.“

Was den Export kultureller Güter und Dienstleistungen (Bücher, Zeitschriften, audio-visuelle Produktionen und visuelle Kunst) betrifft, sieht es allerdings ganz anders aus. Hier belief sich der Anteil Chinas 2013 nur auf 1,5 Prozent – nichts im Vergleich zu den USA (42,6 Prozent), der EU (34 Prozent) oder Japan (10 Prozent).

Chinesische Träume. Zhu Dake, Professor für Kulturkritik an der Universität Tongji in Shanghai, ist überzeugt, dass der wirtschaftliche und politische Aufstieg ohne „Soft Power“ – ohne kulturellen und ideellen Einfluss – nicht von Dauer sein wird. „Wirtschaftliche Macht ist nicht alles. Während der Qing-Dynastie besaß China über 70 Prozent der weltweiten Silberbestände. Mit dem Export von Seide, Keramik, Baumwolle und Tee verdiente China ein Vermögen. China war wirklich reich, aber es half nichts: Der Untergang der Dynastie war nicht aufzuhalten.“

Immerhin hat Chinas Präsident Xi Jinping geschworen, Chinas glanzvolle Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen – „Chinese Dream“ heißt die Kampagne, die dafür sorgen soll. Die Regierung scheut weder Kosten noch Mühen, weltweit ein positives Image Chinas zu etablieren – dazu dienten die Olympischen Spiele in Beijing, die Shanghai Expo und die 440 Konfuzius-Institute rund um die Welt ebenso wie eine 4,5 Mrd. Yuan (670 Mio. Euro) teure globale Imagekampagne.

Ohne Inhalt. Die Resultate beurteilt Professor Zhu jedoch skeptisch. „Sowohl bei den Olympischen Spielen als auch bei der Expo geht es um das nationale Selbstwertgefühl. Die Veranstaltungen zeigen, wie stark die Nation ist. Es wirkte alles wunderbar, aber mit den Leuten auf der Straße hatte das rein gar nichts zu tun. Niemand war beeindruckt. Man muss vielmehr dafür sorgen, dass universelle Werte vermittelt werden. Ohne Werte und ohne Menschlichkeit bleibt Kultur inhaltsleer.“

China und die Online-Welt

  • Twitter, Facebook und Google gehören zu tausenden von der chinesischen Zensur gesperrten Websites. Junge ChinesInnen benutzen stattdessen die lokalen Dienste Sina Weibo, WeChat und Baidu. Sina Weibo hat täglich 50 Millionen aktive UserInnen, WeChat kommt insgesamt auf 600 Millionen UserInnen.
  • Der IT-Sektor begeistert die ChinesInnen, vor allem die junge Generation: Onlinehandel zählt zu den beliebtesten Branchen für UniversitätsabsolventInnen. Unternehmen wie Alibaba, Tencent, Baidu and Xiaomi haben Popstar-Status.
  • 2014 ging der populäre Onlinehändler Alibaba an die New Yorker Börse. Das Unternehmen, das jährlich so viel Umsatz macht wie Ebay und Amazon zusammen, verzeichnete den erfolgreichsten Börsengang eines IT-Unternehmen aller Zeiten und ließ damit auch Facebook hinter sich. Alibaba-Gründer Jack Ma ist eine Art chinesischer Mark Zuckerberg.  Jose Qian

China sollte stärker darauf fokussieren, seine Popkultur zu fördern und nicht die Staatskultur, findet Dai. „Was die meisten Länder exportieren, ist Popkultur. Die chinesische Regierung hat Popkultur nie als Kultur im eigentlichen Sinne betrachtet.“

Zweifellos war Bruce Lee nicht die einzige prominente Persönlichkeit, die China hervorgebracht hat. Seit 1980 kam eine ganze Reihe von Film- und Popstars und KünstlerInnen hinzu, zuletzt auch international erfolgreiche SportlerInnen wie etwa Yao Ming (Basketball), Li Na (Tennis) und Lin Dan (Badminton). Der bekannteste chinesische Schauspieler, Chen Kun, zählt auf Sina Weibo, dem chinesischen Gegenstück zu Twitter, nicht weniger als 77 Millionen Follower; vor zwei Jahren waren 10.000 Tickets für ein Konzert der Sängerin Li Yuchun innerhalb von 69 Sekunden ausverkauft.

Unbekannte Berühmtheiten. Dass diese Promis im Ausland kaum bekannt sind, hat für Dai vor allem mit der Sprachbarriere zu tun. „Chinesische Stars können mit dem Rest der Welt nicht in einer Sprache sprechen. Außerdem ist das Niveau der chinesischen Popstars nicht gerade hoch. Sie haben ein kommerziell verwertbares Gesicht, ein Lächeln und einen Satz, den sie überall herunterleiern. Sie haben keine echte Persönlichkeit.“

Fehlende Bekanntheit ist für Professor Zhu nicht das Problem. Es gehe darum, welche kulturellen Werte China überhaupt zu bieten hätte. „Wir haben keine Verbindung zu unseren Traditionen. Wir haben nichts, was wir der Welt zeigen könnten. Uns fehlt der Prozess der Neuschöpfung. Unsere kulturelle Erholung hat eben erst begonnen.“

1966 löste der frühere Staats- und Parteichef Mao Zedong die Kulturrevolution aus. In den zehn Jahren bis zum Tod Maos erlebte China die vielleicht schlimmste Kulturzerstörung in der Geschichte der Menschheit – die intellektuelle Elite wurde fast zur Gänze ausgeschaltet, religiöse Einrichtungen wurden geschlossen, man verabschiedete sich von allen Traditionen.

Seit dem Beginn der Reformpolitik im Jahr 1978 hat sich China wieder gegenüber dem Ausland geöffnet und – wichtiger noch – seinen 1,4 Mrd. Menschen in vielerlei Hinsicht ermöglicht, ein normaleres Leben zu führen. Im kulturellen Bereich jedoch wurden die Zügel nie aus der Hand gegeben.

„Alles, was tiefergehende oder kritische Aussagen beinhaltet, schafft es einfach nicht durch den Raster der Zensur in China. Man kann sagen, dass die Kommerzialisierung dem oberflächlichen Geschmack des Markts hinterherläuft, während die Politik alles verbietet, was diesen Geschmack verändern könnte. Nach einer gewissen Zeit hören die Leute auf, das in Frage zu stellen. Unterhaltung ist Unterhaltung und damit hat es sich.“ Daher ist die chinesische Popkultur auch eher von Kommerz geprägt, glaubt Dai – auf Qualität kommt es weniger an.

Kontrollierte Kultur. Unter der Leitung des Chinesischen Ministeriums für Öffentlichkeitsarbeit und unter dem wachsamen Auge der Kommunistischen Partei Chinas kontrollieren das Ministerium für Kultur sowie die Staatliche Verwaltung für Presse und Publikationen, Radio, Film und Fernsehen das gesamte kulturelle Leben des Landes. Ob die Produktion eines Dokumentarfilms oder einer TV-Seifenoper, die Organisation eines Rockfestivals, die Herausgabe eines Kinderbuchs oder politische Stellungnahmen – in China wird alles behördlich kontrolliert. Junge Menschen in China entwickeln von klein auf ein Feingespür für das Erlaubte und das Verbotene.

Um das Problem der Kulturproduktion zu lösen, meint Professor Zhu, müsste das politische System reformiert und die Presse- und Meinungsfreiheit gewährleistet werden. „Ohne Freiheit gibt es keine Kreativität. Die Erfahrung der letzten 30 Jahre hat es bewiesen: Ein unterjochter Geist bringt niemals eine große Kultur hervor.“

Jose Qian, geboren und aufgewachsen in Shanghai, ist seit 2005 Producer im ARD Radio Studio Shanghai. Seine Beiträge wurden im ARD-Hörfunk, im chinesischen Programm der Deutschen Welle und im Monatsjournal der Asiatischen Entwicklungsbank veröffentlicht.

Übersetzt von Robert Poth.

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