500 Jahre lang bestimmte der Westen die Weltentwicklung, dem Rest der Welt wurde eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Warum sich das künftig ändern wird und die Post-2015-Debatte in einer Sackgasse steckt, erklärt Andreas Novy.
Zuerst Kolonien, dann Entwicklungshilfebezieher und schließlich Globaler Süden. Es änderte sich zwar die Bezeichnung für die Länder an der Peripherie der Weltwirtschaft – dem „Rest“, wie dies Edward Said auf den Punkt brachte, – die Dynamiken ungleicher Entwicklung blieben aber bis zum Ende des 20. Jahrhunderts unverändert. Die technische und ökonomische Überlegenheit der kapitalistischen westeuropäischen Marktgesellschaften ermöglichte vom 15. Jahrhundert an die Eroberung weiter Teile der Welt. Die politökonomische Herrschaft durch Kolonialismus und später Imperialismus verband sich immer auch mit einem kulturellen Projekt: Anfangs ging es um Missionierung, später um Verwestlichung und die Verallgemeinerung des American and Europan Way of Life: Impfungen, Bildung, Autos und Kühlschränke für alle.
Die Modernisierung der Welt nach unserem westlichen Muster war und ist widersprüchlich: Zivilisatorischer Fortschritt und brutale Machtpolitik gehen Hand in Hand. Der Völkermord an vielen indigenen Gruppen, Sklavenhandel, die Zerstörung lokaler Wirtschaftsstrukturen, lokaler Kulturen und lokalen Wissens sind die Schattenseiten. Doch auch die Vorzüge können sich sehen lassen: Die Verbreitung wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, die Senkung der Kindersterblichkeit und die Erhöhung der Lebenserwartung gehören ebenso zu den positiven Seiten wie Rechts- und Sozialstaatlichkeit, moderne Infrastruktur und politische Partizipation.
Die Millennium Development Goals (MDGs) eröffneten eine weitere Phase dieser Modernisierung. Aufholende Entwicklung wurde mit den MDGs nicht anhand von Wirtschaftswachstumszahlen, sondern an veränderten Lebensbedingungen gemessen, insbesondere an der Befriedigung von Grundbedürfnissen. Die Staatengemeinschaft bekannte sich mit den MDGs zu messbaren Zielen menschlicher Entwicklung, wie der Bekämpfung von Hunger und der Senkung von Kindersterblichkeit. Die Stärke und Schwäche der gewählten Indikatoren war ihre Einfachheit: Grundschulbildung für alle Kinder zum Beispiel ist ein positiv bewerteter Indikator, der aber nichts über die Qualität der Lehrinhalte oder die Qualifizierung der LehrerInnen aussagt.
Trotz aller Diskussionen über die gewählte Strategie gibt es in vielen Bereichen und Weltregionen substanzielle Fortschritte (siehe Beitrag Seite 30). Dies verdankt sich allerdings nicht vorrangig der Entwicklungszusammenarbeit, sondern der Herausbildung sozialstaatlicher Strukturen und einer gestärkten Wirtschaftsstruktur: So sank der Anteil der Unterernährten vor allem in Brasilien und in China – beides Länder, die nicht länger Entwicklungshilfe beziehen, sondern selbst zu so genannten neuen Gebern geworden sind.
Gleichzeitig geht es in Europa in die Gegenrichtung: Seit 2010 stieg in der EU die Zahl der Armen um zehn Millionen, 124 Millionen EU-BürgerInnen sind armutsgefährdet. Während in Brasilien das Regierungsmotto der letzten vier Jahre lautete „ein reiches Land ist ein Land ohne Armut“, räsoniert der Chef der Europäischen Zentralbank über das Ende des Sozialstaats. Gleichzeitig verliert Europa trotz – andere sagen wegen – des fortgesetzten Sozialabbaus auch an Wirtschaftskraft, was die schon geringe Bereitschaft zur Entwicklungsfinanzierung weiter senkt.
Das führt die gegenwärtige Diskussion über die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit, die „Post-2015 Agenda“, in eine Sackgasse. Es stimmt, dass die großen Fragen von Klima, Hunger, Sicherheit und Armut uns alle angehen. Wir sitzen im selben Boot und stehen vor der Aufgabe, diesen Planeten mit seinen Reichtümern und seiner Verletzlichkeit so zu nutzen, dass allen Menschen ein gutes Leben möglich ist. Doch dies impliziert unterschiedliche Verantwortlichkeiten. Erstmals akzeptieren die Entwicklungsländer die Doppelmoral des Westens nicht mehr: Es geht nicht an, universelle Rechte einzufordern, wenn wir nicht bereit sind, Privilegien und Machtpositionen im Interesse einer ausgewogeneren Weltordnung mit gerechter verteilten Lebenschancen aufzugeben. Und zwar auch dann, wenn die gewählten kulturellen und politischen Ordnungen nicht den unsrigen entsprechen – was z.B. Standards von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit betrifft.
Vergessen wir nicht: Die NutznießerInnen der internationalen Arbeitsteilung und des fossilen Energiemodells waren über lange Zeit wir; die Kosten haben andere getragen. Der Umbau unseres nicht-nachhaltigen Entwicklungsmodells ist daher eine Aufgabe, zu der in erster Linie die reichen Staaten einen Beitrag zu leisten haben: Dazu zählt weiter Entwicklungsfinanzierung im klassischen Sinne und der solidarische Umgang mit Flüchtlingen und anderen VerliererInnen der konflikt- und konkurrenzorientierten Weltordnung. Darüber hinaus müssen wir unseren Lebensstil und unsere Produktionsweisen ändern, so dass unser Ressourcenverbrauch mit den planetarischen Grenzen vereinbar ist. Globale Verantwortung ist in erster Linie eine „Hausaufgabe“ lokaler und nationaler Politik. Und zwar gar keine einfache, wenn wir an die Diskussionen etwa um städtisches Mobilitätsverhalten oder den Umgang mit Flüchtlingen denken.
Die alte Führungsrolle Europas und der USA beruhte auf militärischer Stärke und Wirtschaftskraft. Doch hard power stößt an ihre Grenzen. Neue Kriege an den Grenzen Europas, abwandernde Industrien und Arbeitslosigkeit sind die Folge, wenn Probleme weiter durch Konflikteskalation und verstärkte Konkurrenzorientierung bearbeitet werden. Auf diesem Pfad hat Europa nur zu verlieren. „Weiter so“ ist keine erfolgversprechende Strategie.
Post-2015 wird eine Welt sein, in der Europa und die USA nicht mehr allein den Ton angeben. Die EU kann sich weiter dagegen sträuben und versuchen, mit TTIP und anderen Mitteln die Führungsrolle des Westens zu sichern. Oder es wählt den mutigen Schritt nach vorne und etabliert eine neue Kultur gegenseitigen respektvollen Lernens. Die neue Rolle Europas darf nämlich nicht in einer neuen Deklaration kultureller Überlegenheit bestehen, wie dies im Demokratie- und Menschenrechtsdiskurs mitschwingt. Europa hat schon zu lange die Welt belehrt und missioniert.
Gefragt ist vielmehr eine neue Bescheidenheit des einstmaligen Nabels der Welt. Statt der fortgesetzten Übernutzung fossiler und anderer Ressourcen aus anderen Erdteilen, statt der Hoffnung auf fremde Märkte, um die eigenen Produkte abzusetzen, geht es um eine Rückbesinnung auf die Potenziale und Stärken des europäischen Zivilisationsmodells mit seinem universellem Zugang zu Bildung und Gesundheit und damit hoher Lebensqualität. Dieses Modell umfassender Chancen für alle – das zur Zeit in den Ländern des Südens als vorbildhaftes Entwicklungsmodell entdeckt wird – ist wegen seiner Abhängigkeit von fossiler Energie so nicht verallgemeinerbar. Sozialstaatlichkeit für alle muss zeitgemäß verändert werden. Chancengleichheit muss auch umgesetzt werden, wenn Öl und andere kostbare Ressourcen nicht länger billig verfügbar sind und in Welthandel und internationalen Institutionen nicht mehr das Recht der Reichen und Starken gilt, sondern auf Augenhöhe verhandelt wird. Hier könnte, hier sollte, Europa Pionier solidarischer und nachhaltiger Entwicklung werden. Es müsste dann auch neue Entwicklungsziele für uns geben. Indikatoren für diese Art von Entwicklung könnten zum Beispiel aus unserem Umgang mit dem Auto und unserem Umgang mit Flüchtlingen abgeleitet werden.
Andreas Novy ist ao. Universitätsprofessor, Obmann der Grünen Bildungswerkstatt und Kuratoriumsvorsitzender der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung.
Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!
Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.
Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.
Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!
Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.