„Abrufbares und aufbereitetes Wissen“

Von Redaktion · · 2012/02

Andre Gingrich, Professor für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien, ist einer von drei Herausgebern des kürzlich erschienenen Lexikons der Globalisierung. Südwind-Redakteurin Irmgard Kirchner sprach mit ihm über Wissenschaft für die Praxis.

Südwind-Magazin: Im Zeitalter von Wikipedia, in dem alle Begriffe schnell im Internet nachgeschaut werden, haben Sie ein Monumentalwerk in Buchform vorgelegt. Was war die Motivation dafür?
Andre Gingrich:
Die Umwandlung des Alltags durch die Globalisierung seit den 1970er und 1980er Jahren ist so umfassend und so nachhaltig, dass wir als Herausgeber uns für ein dauerhafteres Medium entschieden haben. Ein Buch ist in vieler Hinsicht handlicher. Mit einem Griff hat man unter Anführungszeichen „alles“ beisammen, das zu einem komplexen Thema wie Globalisierung aus Sicht der Kultur- und Sozialwissenschaften für den Normalverbraucher und die Normalverbraucherin wichtig ist.

Das Buch ist sehr gut lesbar und doch wissenschaftlich fundiert. Wer ist das Zielpublikum?
Das Lexikon eignet sich als Studier- und Leseanleitung für Studierende in allen mit der Thematik Globalisierung befass­ten Fächern im deutschsprachigen Raum. Daneben soll es den Zöllner, die Polizistin mit berufsspezifischer Ausbildung genauso anregen, sich mit diesen Themen vertiefend zu befassen, wie den Berufsschullehrer oder die Bankfrau, die sich im Bereich des Exporthandels mit Globalisierung auseinander setzt.

Ist das Lexikon eine Art neue Einführung in die Kulturanthropologie?
Die Kurzantwort ist „ja“. Alle drei Herausgeber sind Kultur- und Sozialanthropologen. Wir haben in dem Lexikon auch den Wandel im eigenen Fach mitdurchdacht und mitkommuniziert. Bei der viel zitierten „Wissensgesellschaft“ geht es auch darum, dass Alltagswissen sich verstärkt stützen kann auf abrufbares und aufbereitetes Wissen. Insofern hat die Wissenschaft auch eine Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit.

Was ist der spezielle Beitrag der Kultur- und Sozialanthropologie für die Globalisierungsdebatte?
Aktuell tritt nicht nur eine große Vereinheitlichung in der Welt auf, sondern auch ein sehr unterschiedlicher Umgang mit den vereinheitlichenden Faktoren. Die kulturelle Vielfalt, die es vor diesen letzten großen technologischen medialen und wirtschaftlichen Umwandlungspro­zessen gegeben hat, ist zum Teil abhanden gekommen und zum Teil tritt sie in neuer Form und in neuem Gewand wieder zutage. Das verständlich zu machen, ist ein ganz entscheidender Beitrag, den die Kultur- und Sozialanthropologie nicht allein, jedoch viel besser und intensiver leisten kann als andere Disziplinen.

Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll, Andre Gingrich (Hg.):
Lexikon der Globalisierung
Transcript Verlag, Bielefeld 2011,
527 Seiten, EUR 30,70
Das neue Standardwerk zum Thema Globalisierung: 145 Stichworte – von Alter-Globalisierung über Hybridität, Neue Kriege, Orientalismus, Tobinsteuer bis Zivilisation wurden kompakt und verständlich aufbereitet von 117 internationalen WissenschaftlerInnen. Darunter finden sich so prominente Namen wie Arjun Appadurai, Talal Asad, Maurice Godelier, Shalini Randeria und Ruth Wodak.

Welches Verständnis von Globalisierung liegt dem Buch zu Grunde?
In den 1990er Jahren und nach der Jahrtausendwende haben sich Extremstandpunkte rund um zwei Pole heraus gebildet: Diejenigen, die alles betonen, was vollständig neu an Globalisierung sei und einen ganz radikalen Bruch zu früheren Entwicklungen darstelle. Und die anderen, für die nichts von dem, was sich heute abspielt und mit dem von ihnen als inhaltsleer bezeichneten Schlagwort „Globalisierung“ bezeichnet wird, wirklich neu ist.
Gegenüber diesen beiden sehr extremen Standpunkten gibt es einen „Globalisierungsrealismus“: Vieles ist wirklich ganz neu, einiges ist aber nicht so neu und setzt Älteres fort. Und das ist der rote Faden durch die meisten Beiträge im Lexikon.

Welche spezielle Kompetenz hat die Kultur- und Sozialanthropologie, um sich Globalisierung anzuschauen?
Die erste Voraussetzung ist, dass sich die Anthropologie selbst globalisiert und ihre alten nationalen Besonderheiten abstreift. Heute geht es darum, eine große Synthese zusammen mit den Anthropologien aus den postkolonialen Gebieten – etwa Südafrika, Brasilien, Indien, usw. – zu entwickeln, in der sowohl Historisches, als auch Vergleichendes, Gegenwartsbezogenes zum Zug kommt. Die traditionellen Kernkompetenzen der Anthropologie haben sich weiterentwickelt. Das sind auf teilnehmender Beobachtung in vielen neuen Formen aufbauende Untersuchungen der mikroskopisch kleinen sozialen und historisch gewachsenen lokalen Zusammenhänge vor Ort und der Vergleich dieser kleinen Zusammenhänge miteinander. Und im Großen die Arbeit mit Konzepten, die die kulturelle Einbindung von Akteuren vor Ort in überlokale und transnationale Zusammenhänge nachvollziehbar machen.

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