Früchte der Wahrheit

Von Redaktion · · 2010/10

Unter Dalit-Frauen im ländlichen Süden Indiens wird mit Saatgut noch ebenso kenntnisreich wie weise umgegangen. Eine Reportage von New Internationalist-Autor Jaideep Hardikar.

Was einem zuerst ins Auge sticht, sind die Farben. Dann die faszinierende Vielfalt. Chandramma Molikeri lächelt, während sie die schönen, mit Samen gefüllten Tontöpfe in Reih und Glied auf dem Lehmboden ihres Hauses anordnet. „Das ist unser Saatgut – unser Leben“, sagt die 60-Jährige. Stolz präsentiert sie verschiedene Hirsesorten, die anderswo in Indien schon fast verschwunden sind. Die Liste ist lang: Fuchsschwanz-Hirse, Wildhirse, Kleine Hirse … Alle diese Saaten, sagt sie, sind die Grundlage der Ernährung ihrer Familie, ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens: Ajowan (Trachyspermum copticum) ist gut für stillende Frauen; Leinsamen für das Herz; Kleine Hirse schützt vor der Hitze des Sommers. In ihrer Muttersprache Telugu nennt Chandramma sie alle satyam pantulu, etwa „Früchte der Wahrheit“.

Es ist eine Ode an die Widerstandsfähigkeit des Saatguts, das trotz widriger Umstände keimt und gedeiht – trotz der unfruchtbaren, vom Laterit rot gefärbten Böden, die typisch für diese Region sind; trotz der Launen des Monsuns; trotz der Wetterkapriolen und der schwankenden Marktpreise. Die Samen sind verlässlich, halten Wort. Sie gedeihen ohne viel Wasser oder Dünger. Sie passen zum Trockenfarmsystem, im Gegensatz zur teuren, energieintensiven modernen Landwirtschaft, die die Regierung den Bäuerinnen und Bauern aufzwingt, die heute zu Millionen unter dem Joch der Schulden dahinvegetieren.

Wir befinden uns in Bidakanne, einem Dorf mit rund 2.000 meist kleinen bäuerlichen Haushalten im Bezirk Medak im Bundesstaat Andhra Pradesh, etwa 160 Kilometer westlich der Hauptstadt Hyderabad. Hier herrscht ein trockenes Klima, genauso wie in 70 Prozent der Anbaugebiete Indiens, die vom Regenfall abhängig sind. Jede kleine Verzögerung der Monsunregen hat katastrophale Auswirkungen. Heute aber sind die Wolken regenschwer. Der Monsun, sehnlichst erwartet nach einem zermürbenden Sommer und einem der schlimmsten Dürrejahre, hat endlich begonnen.

Chandramma ist nicht allein mit ihrer Entschlossenheit, die „Würde“ von Kulturpflanzen wiederherzustellen, die zu „minderwertigen“ Getreiden degradiert wurden. Es sind nicht weniger als ca. 5.000 Frauen aus 75 Dörfern, die beanspruchen, ein Kulturerbe der Agrobiodiversität zu begründen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten haben sie, unterstützt von der Deccan Development Society (DDS), keine Mühe gescheut, um das Saatgut der lokalen Sorten zu bewahren. Es ist eine Art Revolution. Wird diesen Sorten in offiziellen Saatgutregistern der Status eines Kulturerbes zuerkannt, könnte jede Aktivität untersagt werden, die ihren Anbau beeinträchtigen könnte, unterstreicht P.V. Satheesh, Gründer und Direktor der DDS.

Die Mitglieder der Organisation kämpfen gegen Marktgiganten. Die „Knowledge Initiative“, unterzeichnet 2006 von Premierminister Manmohan Singh und US-Präsident George Bush, wurde von Vertretern von Wal-Mart und Monsanto gefeiert. Das offizielle Indien reißt sich heute um teure Agrartechnologien, offenbar um das schleppende Wachstum der Landwirtschaft anzukurbeln. Viele glauben, dass diese Strategie mehr schaden als nützen wird. Die Zukunft, ist sich Satheesh sicher, liegt vielmehr darin, zurück zu den Wurzeln zu gehen, zu unserem traditionellen Wissen.

Chandramma strahlt Vertrauen aus, Vertrauen in das Wissen, das sie von ihren Eltern erwarb, die es wiederum von ihren Eltern und deren Vorfahren erhielten. Wer ihr zuhört, erhält Unterricht: über die Wissenschaft von den Saaten, die sie „Urheber des Lebens“ nennt; über den Wert der Weisheit; über die Verbindung des Menschen zur unberührten Natur; über die Geheimnisse der Biodiversität; über den Geschmack und die Entstehung der lokalen Küche, die in Indien eine Region von der anderen unterscheidet.

„Wenn ich mein Saatgut kontrolliere“, sagt sie, „dann habe ich auch Kontrolle über meine Nahrung und die Ernährung meiner Familie.“ Bewahre dein eigenes Saatgut; baue nichts an, was du nicht essen kannst. „Ohne Saatgut“, sagt sie, „ist eine Landwirtschaft wie ein Haus ohne Licht.“

Chandramma: „Eine Landwirtschaft ohne Saatgut ist wie ein Haus ohne Licht.“

Die Bäuerinnen der Region bauen zwischen 6 und 25 Kulturpflanzen in bis zu 80 verschiedenen Sorten an. Diese große Vielfalt, sagen sie, ist eine Versicherung gegen ungewöhnliches Wetter und Marktschwankungen. Die eine Saat überlebt es, wenn sich der Regen verspätet, die andere widersteht der Dürre. Irgendetwas gedeiht immer.

Die 5.000 Frauen der DDS sind auf Dorfebene in so genannten sanghams oder Freiwilligengruppen organisiert. Sie gehören zu den Ärmsten der Armen; sie sind Dalit – vormals „Unberührbare“ –, Gemeinschaften am unteren Ende der sozialen Leiter Indiens. Ihr Land, sagt Samamma – eine der Frauen, die sich um die Bewahrung des Saatguts kümmern –, ist karg, arm an Ressourcen, ein Zeichen ihrer Diskriminierung. Das Saatgut ist das, was sie zusammenbringt, ihr gemeinsamer Nenner, ein Grund, sich zu organisieren und sich damit letztlich politisches Gewicht zu verschaffen.

Neben der Bewahrung ihres persönlichen Saatguts unterhalten die Frauen 60 gemeinschaftliche Samenbanken mit mehr als 80 wilden Sorten, die in der modernen Landwirtschaft keine Rolle mehr spielen – lebende Relikte der einstigen Vielfalt der indischen Landwirtschaft. In jedem der 75 Dörfer hängen über den Türen thoranam, Girlanden von Samensäckchen, ein Zeichen des Stolzes der BäuerInnen auf ihre Biodiversität.

Die Vorrichtung, die sie zur Aufbewahrung der Samen verwenden, ist recht einfach. Ein handgemachter runder Bambuskorb, 60cm im Durchmesser und 45cm tief, wird mit Kuhdung verputzt. Die Samen kommen in den trockenen Korb und werden mit Gras bedeckt. Darüber kommt eine weitere Schicht Kuhdung. Damit sind sie gut geschützt, und es kostet nichts. Am Tag der Aussat, erklärt Chandramma, werden an fünf verschiedenen Stellen auf den Feldern Zeremonien für den Korb abgehalten, bevor er geöffnet wird.

Saatgut zu verkaufen oder damit zu handeln ist absolut verboten. Man darf es lediglich weitergeben, borgen oder austauschen. Chandramma leiht ihre Saaten an andere Leute aus dem Dorf, sofern sie nach der Ernte die doppelte Menge zurückerhält. Sowohl Ressourcen als auch Wissen werden frei ausgetauscht, was eine lokale Anpassung des Saatguts befördert.

P.V. Satheesh ist eine der treibenden Kräfte des Millet Network of India (MINI; www.milletindia.org), eines Netzwerks, das den Anbau traditioneller Getreidesorten jenseits von Weizen oder Reis fördern will. Als er erstmals hierher kam, erzählt Satheesh, hatte bereits ein Prozess der ökologischen Zerstörung begonnen: Durch die Intensivierung der Landwirtschaft lag immer mehr Land brach, subventionierte Monokulturen verdrängten kleine bäuerliche Betriebe. Brachliegendes Land und Mangelernährung waren zwei Seiten einer Medaille. 1997 war die Sortenvielfalt um 70% gesunken. Es war an der Zeit, sich ernsthaft Gedanken zu machen.

Die Marginalisierung von Kulturpflanzen führt zur Marginalisierung von Land und letztlich auch der Bauern und Bäuerinnen, sagt Satheesh: „Im Kern war das auf den Verlust der Sortenvielfalt und der Eigenständigkeit zurückzuführen.“ Es dauerte, bis die DDS das Vertrauen der Bevölkerung gewann und sie überzeugen konnte, wieder zu den Getreidesorten zurückzukehren, die sie früher angebaut hatten. „Nun überzeugen sie selbst andere davon, sich wieder auf ihr traditionelles Wissen zu besinnen.“

In ganz Indien sind multinationale Konzerne dabei, den Milliarden Dollar schweren Saatgutmarkt zu übernehmen, was die Lage von Millionen Kleinbäuerinnen und -bauern weiter verschlimmert. Das gentechnisch veränderte Saatgut von Monsanto ist die jüngste Bedrohung der hohen Agrobiodiversität in Indien, klagen viele Bauernorganisationen. Seine Einführung wird für Selbstmordwellen unter Kleinbäuerinnen und -bauern verantwortlich gemacht. Eine weitere Befürchtung: Die Gentechnik in der Landwirtschaft könnte zu starker Bodenerosion führen. Eine diversifizierte Landwirtschaft ist stabiler und nachhaltiger und minimiert das finanzielle Risiko – ein wichtiger Faktor für Kleinbäuerinnen und -bauern.

Anjamma: „Du wirst in meiner Küche nichts finden, was ich nicht selbst anbaue.“

Kein Wunder, dass der Widerstand gegen die kommerziellen Saatgutunternehmen wächst. Die Palette reicht von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie der DDS und Bewegungen wie Beej Bachao Andolan (Bewegung zur Rettung des Saatguts) im Vorland des Himalaya über die prominente NGO Navdanya („Neun Samen“) bis zu kaum bekannten Bauern wie Dadaji Khobragade, der auf seinem halben Hektar Grund in Maharashtra alte Reissorten anbaut und neue züchtet.

Für Frauen wie Anjamma ist das Leben ein Fest zu Ehren des bunten Saatguts. „Ich werde für mein Wissen geachtet“, sagt sie. „Als letztes Jahr wegen der Dürre alle kommerziellen Sorten verkümmerten, hatte ich Rekordernten.“ Auf ihren vier Hektar Land, die sie über einen Zeitraum von 20 Jahren Stück für Stück zusammenkaufte, baut sie circa 80 verschiedene Kulturpflanzen an. Die junge Generation sei durchaus gewillt, sich uraltes überliefertes Wissen anzueignen. Wissen, sagt sie, veraltet niemals. Es gilt ewig. „Schau in meiner Küche nach, du wirst nichts finden, was ich nicht selbst anbaue. Wenn du mir etwas zeigen kannst, was ich nicht anbaue, dann mache ich alles, was du von mir willst“, zwinkert sie mir kichernd zu.

Jaideep Hardikar ist Journalist in Nagpur, Indien. 2009 arbeitete er als Alfred Friendly Press Fellow in den USA.

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