Das neue Lagos

Von Hakeem Jimo · · 2010/03

Lagos, der einstige urbane Moloch, erfindet sich in vielen Bereichen neu. Nach wie vor führen in Westafrika alle Wege ins „Center of Excellence“, wie es auf den Autoschildern heißt.

Zu einer richtigen Stadt gehören Verkehrsnachrichten. Lagos will das haben, was moderne Großstädte schon lange kennen. Aber der Sinn und Zweck von Verkehrsfunk in Lagos bringt den Moderator zum Lachen. Während seiner langen Auflistung der tagtäglichen und immer wieder gleichen Staus kann er sich Kommentare nicht verkneifen: „Jeder weiß, dass der Verkehr auf der Ikorodu Road 18 Stunden am Tag stillsteht, und auch von der Verkehrslage auf den Inseln brauchen wir nicht zu reden – fahrt da nicht hin!“

Lagos altes wie neues Problem heißt Verkehrsinfarkt. Das kann keiner bestreiten. Dennoch hat sich das Gesicht der Millionenstadt verwandelt. Eine neue Dynamik durchdringt die Stadt. Begabte, junge, professionelle NigerianerInnen ziehen aus London und den USA zurück in ihre Heimat. Denn hier meinen sie mehr erreichen zu können als in der Diaspora. Reiche NigerianerInnen erkennen, dass es durchaus gewinnbringend sein kann – abgesehen von sentimentalen, patriotischen Gefühlen – in Nigeria und vor allem in Lagos zu investieren: Entertainment, Kommunikation und Bauwirtschaft boomen.

„Kommen Sie nicht nach Lagos für einen erholsamen Urlaub. Lagos bedeutet Chaos am laufenden Band“, schreibt das Lagoser Magazin TimeOut, das wie sein Londoner Vorbild die Freizeit-, Gourmet- und Nachtclub-Szene der Stadt aufzählt. Dass es so ein Magazin – professionell gemacht und mit entsprechendem Inhalt – in Lagos gibt, ist ein Beweis für die frische Dynamik in der Stadt. „Wir haben ein beachtliches Kulturprogramm, erstklassige Restaurants mit Küche aus aller Welt, Shopping Malls nach südafrikanischem Vorbild, Multiplex-Kinos, ruhige Cafés und schicke Bars“, sagt Bolanle Austen-Peters, Besitzerin von TerraKulture, einem Treffpunkt der gut verdienenden, neuen Mittelklasse mit Galerie, Restaurant und Kulturveranstaltungen. Noch vor fünf Jahren sei Lagos in vielerlei Hinsicht eine Wüste gewesen, jetzt sei vieles möglich, sagt die Frau, die Lagos ihrer Wohnung an der Kings Road in London vorzieht. Wer doch mal schnell woanders in der Welt hin will, kann mittlerweile täglich aus Lagos direkt nach New York fliegen oder auch nach Südafrika, Dubai oder China – von Europa gar nicht zu reden.

Fliegen müsste man auch innerhalb von Lagos können. Das urbane Gebilde scheint uferlos zu wuchern. Die Volkszählung von Lagos spricht von rund 16 Millionen EinwohnerInnen. Geht es nach Schätzungen der Vereinten Nationen, dann wird Lagos in wenigen Jahren mit rund 25 Millionen Menschen zu den vier größten Städten weltweit gehören.

Jeden Tag kommen 3.000 Menschen vor allem aus ländlichen Regionen Nigerias in Lagos an. „Wir können den Menschen nicht vorschreiben, wohin sie ziehen und wo sie wohnen sollen – also auch nicht von Lagos fernhalten“, sagt Kayode Sutton, Sprecher der Behörde für Stadtplanung. „Uns bleibt nur, Infrastruktur zur Verfügung zu stellen.“

Die Zukunftsplanung von Lagos ist von nationalem Interesse. Denn auch wenn Lagos in den 1980er Jahren den Hauptstadt-Status verlor, bleibt es unangefochten die Wirtschaftsmetropole des bevölkerungsreichsten Landes Afrikas. Jahrelang war das Verhältnis zwischen der neuen nigerianischen Hauptstadt Abuja und Lagos zerrüttet. Die LagosianerInnen waren über die stiefmütterliche Behandlung der Bundesregierung verärgert. Gelder, die in Abujas zahllose Straßenprojekte gepumpt wurden, fehlten in Lagos an allen Ecken und Enden. Jahrelang verzögerte der frühere Präsident Olusegun Obasanjo Zahlungen an Lagos. Viele sahen darin eine Trotzreaktion, weil Lagos als Hochburg der Opposition galt.

Nun aber scheint man sich zusammengerauft zu haben. Lagoser Stadtverwaltung und Bundesregierung verfolgen jetzt gemeinsam ein Projekt namens „Lagos-Mega-City“, das drei Kernbereiche der Stadtentwicklung vorsieht. Erstens: Alternativen zum Transportwesen. Ein Schnell-Bus-System mit gesonderten Fahrstreifen wurde eingeführt, an drei Eisenbahnlinien wird gearbeitet. Zweitens: Das Konzept der „model city“, das „integriertes Leben“ in den jeweiligen Stadtteilen möglich macht. Wohnung, Arbeit, Geschäfte, Ärzte etc. im selben Viertel. Davon verspricht man sich weniger Pendlerverkehr und Entlastung des Stadtzentrums. Drittens: Slum-Viertel mit Infrastruktur versorgen. Für die erfolgreiche „Lagos-Mega-City“ will der vor drei Jahren gewählte Gouverneur Babatunde Fashola sorgen.

Von größerer Tragweite sind Pläne für die Finanzierung des geschätzt anderthalb Milliarden Euro teuren Energieprogramms, „Lagos Energy City Project“, das in drei Jahren 130 Megawatt generieren soll. Für dieses Jahr hat Gouverneur Fashola das mit 400 Milliarden Naira (umgerechnet gut sechs Milliarden Euro) größte Haushaltsbudget in der Geschichte der Stadt und irgendeines nigerianischen Bundesstaats vorgelegt.

Getrennt von den Lagunen, gegenüber den drei Inseln Victoria Island, Lagos Island und Ikoyi, wuchert Lagos nach Osten, Westen und Norden. Im Süden begrenzt der Atlantische Ozean die Stadt. Der allerdings kommt selbst näher. Gewaltige Erosionen haben nahezu den ganzen Sandstrand weggespült. In einem Multi-Millionen-Dollar-Projekt legte eine Baufirma das verbliebene Stückchen Strand des Bar Beach in einen Beton-Sarkophag. Vorerst ist der Fraß des Meeres an den teuren Grundstücken Victoria Islands gestoppt.

Die notorisch hohen Immobilienpreise schießen seit ein bis zwei Jahren weiter nach oben. Der aktuelle Bauboom reicht nicht aus, die rasant steigende Nachfrage zu befriedigen. Das seit Jahren durchschnittlich fünfprozentige Wirtschaftswachstum in Nigeria zieht magisch neue Unternehmen aus der ganzen Welt an. Sie sehen in Nigeria einen Markt der Zukunft und Lagos als Einstieg. Dazu kommen die Ölfirmen, die angesichts der unberechenbaren Sicherheitslage im Nigerdelta ihre Kommando-Zentralen wieder nach Lagos verlegen.

„Diese Stadt lebt, deshalb ist es so spannend zurückzukommen“, sagt Agustine Ihonvbere, der vor vier Jahren sein angenehmes Leben in Rom gegen das teils abenteuerliche in Lagos eintauschte. Abenteuerlich, sagt er, weil Dinge, die woanders normal sind, wie Strom und relative Sicherheit, hier nicht immer gewährleistet sind. „Aber wenigstens kann man jetzt hier so viel machen, dass ich es wagen kann, auch meine Freunde aus Rom oder New York nach Lagos einzuladen.“

Hakeem Jimo ist Westafrika-Korrespondent der Berliner Tageszeitung taz und des ARD-Hörfunks. Er lebt in Benin/Nigeria.

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