Die ehemalige Umweltministerin Marina Silva durchkreuzt das Kalkül von Präsident Lula und wird bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober nächsten Jahres gegen die Kandidatin der Arbeiterpartei, Dilma Rousseff, antreten.
Die Nachricht schlug wie eine Bombe im brasilianischen Regierungslager ein: Im August verkündete Umweltikone Marina Silva, sie wolle sich an den Präsidentschaftswahlen 2010 beteiligen, und zwar für die kleine Grüne Partei. Dazu verließ sie nach 24 Jahren die Arbeiterpartei PT des höchst populären Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, der aber laut Verfassung nicht ein zweites Mal in Folge wiedergewählt werden kann.
Fast zerbrechlich wirkt die 51-Jährige mit den dunklen Ringen um die Augen, der hohen Stimme und dem Haarknoten. Doch der erste Eindruck trügt: Silva ist für ihre Ausdauer bekannt, und sie zählt zu den integersten PolitikerInnen des Landes. Seit 1994 sitzt die frühere Gummizapferin und Mitstreiterin des Regenwald-Märtyrers Chico Mendes für die PT im brasilianischen Oberhaus – mit einer Unterbrechung von knapp fünfeinhalb Jahren, als sie Lulas Umweltministerium leitete.
Wie die Zerstörung ganzer Lebensräume die Armut zementieren kann, hat Marina Silva von klein auf erlebt. Als eines von elf Kindern einer Gummizapferfamilie wurde sie im Urwald des Amazonas-Bundesstaates Acre geboren. Drei ihrer Geschwister starben früh. Sie selbst hatte immer wieder mit Hepatitis, Malaria und Vergiftungen durch Schwermetalle zu kämpfen. Deswegen zog sie schließlich als 15-Jährige in die Provinzhauptstadt Rio Branco, wo sie Lesen und Schreiben lernte.
Den Wunsch, Nonne zu werden, gab sie auf, doch in den katholischen Basisgemeinden wurde sie rasch politisiert. Als Geschichtsstudentin schloss sie sich einer kommunistischen Gruppe an, die bald in der PT aufgehen sollte. Zusammen mit Chico Mendes organisierte sie die Proteste der KautschuksammlerInnen.
Als jüngste Senatorin Brasiliens wurde Silva in den 1990er Jahren bald zu einer festen Größe in der internationalen Umweltszene. Ihr Engagement für Amazonien brachte ihr unzählige Preise ein, ihre geradlinige Art nötigte selbst ihren politischen Gegnern Respekt ab. Nach seinem Wahlsieg im Oktober 2002 machte Lula sie zur Ministerin.
Doch bei ihrem Vorhaben, die Umweltpolitik in allen Ressorts zu verankern, ließ sie der Präsident allein. Wachstum um jeden Preis erklärte er zur Maxime seiner Wirtschaftspolitik. In Amazonien verbündete er sich mit den Soja-Unternehmern und korrupten Regionalfürsten, die Beton- und Stromlobby setzte den Bau zahlreicher Großstaudämme und Fernstraßen durch. Dem Agrobusiness gab er grünes Licht für den Einsatz der Gentechnik.
Jahrelang trug die vierfache Mutter Marina Silva, die mittlerweile zur bekennenden Evangelikalen konvertiert war, Lulas Kurs loyal mit, manchmal bis an die Grenze der Selbstverleugnung. Zwei riesigen Wasserkraftprojekten am Oberlauf des Amazonas-Nebenflusses Madeira erteilte sie wider besseres Wissen die Umweltlizenz. Trösten konnte sie sich mit Achtungserfolgen gegen den Raubbau: „Wir haben 725 notorische Umweltzerstörer hinter Gitter gebracht“, zieht sie Bilanz. In ihrer Amtszeit wurden mehr Nationalparks ausgewiesen als je zuvor.
Anfang 2008 rechnete sie der britische „Guardian“ zu den 50 Menschen, „die dabei helfen können, den Planeten zu retten“. Doch als ihr Lula im Mai des Vorjahres über Nacht die Zuständigkeit für ein Amazonasprogramm entzog, das sie erarbeitet hatte, erklärte sie ihren Rücktritt mit den Worten: „Es ist besser, den Job zu verlieren als den gesunden Menschenverstand.“ Von der Regierungsverantwortung befreit, wurde sie wieder als Senatorin und Kolumnistin aktiv.
Der Präsident hatte unterdessen im Alleingang Präsidialamtsministerin Dilma Rousseff zur Wunschnachfolgerin im Präsidentenamt erkoren. In Lulas Kabinett verkörperten Silva und Rousseff einen letztlich unüberwindbaren Gegensatz: hie die Streiterin für „nachhaltige Entwicklung“, die auf Allianzen mit AktivistInnen und Nichtregierungsorganisationen setzte, dort die Technokratin, die zuerst das Bergbau- und Energieministerium umbaute und seit 2005 alle Fäden in der Hand hält.
Als wahrscheinlichstes Szenario für die nächsten Wahlen galt lange Zeit ein Zweikampf zwischen den Wachstumsaposteln Rousseff und José Serra, dem Gouverneur von São Paulo, einem rechten Sozialdemokraten, der Lula 2002 klar unterlegen war. Damit ist es jetzt vorbei. Doch das komplizierte Ringen um Koalitionen in Brasiliens Vielparteiensystem, an dem sich auch Silva beteiligen muss, steht erst am Anfang. In den Umfragen liegt sie um die zehn Prozent, Tendenz steigend.
„Marinas Kandidatur bedeutet neuen Sauerstoff für die brasilianische Politik“, meint João Pedro Stedile, ein Chefstratege der Landlosenbewegung MST und selbst PT-Mitglied. „Endlich wird wieder über verschiedene Projekte für Brasilien diskutiert.“
Gerhard Dilger lebt als Korrespondent mehrerer deutschsprachiger Zeitungen in Porto Alegre, Brasilien.